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Kolumne Sag jetzt nichts

Im deutschen Bundestagswahlkampf findet die Euro-Krise praktisch nicht statt. Nach dem 22. September droht ein unsanftes Erwachen
Christian Schütte
Christian Schütte
© Trevor Good


In der Kommunikation, so hat der große Managementtheoretiker Peter Drucker gelehrt, sollte man vor allem auf diejenigen Dinge hören, die nicht gesagt werden. Für den laufenden Bundestagswahlkampf gilt das ganz besonders. Da wird jetzt jeden Tag etwas Neues gesagt, versprochen und gegeißelt. Da hat das Institut der deutschen Wirtschaft vor ein paar Tagen eine Studie vorgelegt, in der die fiskalischen Kosten der verschiedenen Parteiprogramme Punkt für Punkt durchgerechnet werden – kurz gesagt: von den Liberalen bis zur Linken wird es sukzessive immer teurer. Und da hat der Chef des CDU-Wirtschaftsrats bereits einen kurzen Empörungsorkan ausgelöst, als er darauf hinwies, dass die Versprechen in Wahlprogrammen sowieso für keinen verbindlich seien. Seit Neuestem wird auch lautstark um Abhörprogramme gestritten - die eben deshalb so schockierend sind, weil die deutsche Politik praktisch keinerlei Einfluss darauf hat. Und wovon wird geschwiegen? Von der Euro-Krise zum Beispiel. Dass die noch lange nicht überwunden ist und der dramatische wirtschaftliche Absturz der Südeuropäer teilweise noch weitergeht, findet sich allenfalls als Notiz am Rande. Im großen ARD-Sommerinterview mit der Kanzlerin nahm das Thema am Freitag nicht einmal eine Minute ein, etwa fünf Prozent der gesamten Gesprächszeit. „Alles was voraussehbar ist“ werde im Wahlkampf „angesprochen und gesagt“ versicherte Angela Merkel dabei immerhin dem Publikum. Na dann. Unter Ökonomen und Finanzbeamten gilt es als ziemlich voraussehbar, dass in Griechenland demnächst weitere Kredite, ja ein weiterer Schuldenschnitt notwendig werden könnten. Käme es zu einem Schuldenschnitt, dann würden nicht mehr irgendwelche privaten Gläubiger ihr Geld verlieren, sondern die europäischen Steuerzahler, die an deren Stelle als Kreditgeber eingetreten sind. Man könnte, ja man müsste also eigentlich darüber reden, welche Folgen diese und andere absehbare Entwicklungen in Europa – aktuell etwa in Portugal - für die deutsche Politik haben werden. Und auch darüber, wie das Urteil über die bisherigen Rettungsaktionen ausfällt (die auch von SPD und Grünen mitgetragen wurden). Angesprochen auf einen neuen Schuldenschnitt für Athen hat die Kanzlerin aber in einem anderen Interview kürzlich nur knapp erklärt: „Ich sehe das nicht.“ Womit sie natürlich unwiderlegbar ist - und jede weitere Debatte beendet. Was Angela Merkel sieht oder nicht sieht, das weiß außer ihr selbst eben niemand. Was sie später vielleicht einmal sehen wird, das bleibt völlig offen. Durch die Euro-Kommentare internationaler Analysten zieht sich längst die These, dass alle wichtigen Entscheidungen derzeit erst einmal aufgeschoben sind: Ruhe ist die erste Politikpflicht, bis die Bundestagswahl in Deutschland vorüber ist. Es könnte sein, dass manchem Wähler nach dem 22. September Hören und Sehen vergehen wird.

Christian Schütte schreibt an dieser Stelle jeweils am Dienstag über Ökonomie und Politik. Seine letzten Kolumnen: Licht aus Frankreich, Next Stop Checkpoint Bravo und Das Wachstum und wir Gartenzwerge.

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