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Landwirtschaft Russlands Agro-Boom ist bedroht

Mähdrescher bei der Weizenernte in der russischen Region Krasnojarsk im Jahr 2021.
Mähdrescher bei der Weizenernte in der russischen Region Krasnojarsk im Jahr 2021.
© IMAGO / SNA
Russlands riesige Agrarholdings galten vor einigen Jahren noch als attraktive Anlage. Unter Moskaus Autarkiebestreben für die Landwirtschaft machten sich zunehmend Oligarchen breit. Was bedeuten die Sanktionen für sie?

Der hierzulande bekannteste Milchbauer in Russland heißt Stefan Dürr. Er ist ein Unterstützer von Präsident Wladimir Putin, der den Agrarindustriellen wiederum respektiert. Als Vorstandsvorsitzender und Aktionär der Ekosem-Agrar AG kontrolliert der aus Baden stammende Dürr den größten Rohmilchproduzenten der Russischen Föderation und Europas mit knapp 600.000 Hektar Agrarflächen, 180.000 Rindern und 14.000 Mitarbeitern.

Der Vorstand gab Anfang April bekannt, „dass sich die Gesellschaft aufgrund der Auswirkungen des Russland-Ukraine-Konflikts in einer finanziellen Krise befindet“. Bei einer Gläubigerversammlung im Mai soll ein Umstrukturierungskonzept der Anleihen beschlossen werden – darunter ein Zinsabschlag und die Verlängerung der Laufzeit um fünf Jahre. Ein Verkauf der Anteile an russische Zwischenholdinggesellschaften könnte für den Fortbestand des Unternehmens erforderlich werden, heißt es in der Mitteilung. 

Als Gründe nennt Ekosem vor allem eine Kostenexplosion: Betriebsmittel wie Saatgut, Dünger und Ersatzteile für Landmaschinen hätten sich erheblich verteuert, da sie in Euro und Dollar zu zahlen seien. In der Beschaffung habe sich das teilweise massiv auf Lieferfähigkeit und Logistik ausgewirkt. Zum anderen sei die Refinanzierung von Unternehmen mit Russlandbezug auf dem Kapitalmarkt und die Versorgung mit Liquidität massiv erschwert worden, der Zahlungsverkehr zwischen Russland und Deutschland erheblich eingeschränkt.

Was der Konzern beschreibt, sind schmerzliche Folgen westlicher Sanktionen und Restriktionen wie aus dem Drehbuch – auch auf die russische Agrarindustrie. Wohl zielen die von den USA und Europa verhängten Strafmaßnahmen wegen des Aggressionskriegs Russlands gegen die Ukraine nicht auf die Landwirtschaft. Doch sie treffen indirekt auch Stefan Dürr – und sie werden auch an den anderen großen Agroholdings der Föderation nicht spurlos vorübergehen.

Rückschlag für Putins Träume

Für Putins seit den 2000er Jahren konsequent vorangetriebenen Pläne, sein Reich landwirtschaftlich autark zu machen und Agrargüter zu einem zweiten Exportstandbein neben Öl und Gas auszubauen, sind das keine guten Nachrichten. „Das enorme Wachstum des vergangenen Jahrzehnts im Agrarsektor wird nur sehr schwer fortzusetzen sein“, sagt Oane Visser, Professor für Agrar-, Ernährungs- und Umweltstudien am Institute of Social Studies in Den Haag, einem Teil der Erasmus-Universität. „Wir werden eine Stagnation sehen, und das ist nicht nur schlecht für Russland. Das große Flächenland spielt eine wichtige Rolle für die Welternährung.“

Tatsächlich sind unter Putin Russlands landwirtschaftliche Ausfuhren beständig gestiegen. Seit Beginn der 1990er Jahre haben sie sich auf 300 Mrd. Dollar 2020 verdreifacht. Agrarminister Dmitri Patruschew, bis 2018 Chef der landwirtschaftlichen Rosselkhozbank, hat den Auftrag, die Agrarexporte bis 2024 um weitere 50 Prozent zu steigern. Als Putin an die Macht kam, hing die Ernährungssicherheit im Land zu 50 Prozent von Importen ab – ein Dorn im Auge eines Menschen, dem Abhängigkeiten dem Vernehmen nach zuwider sind.

Eine Arbeiterin platziert Eier für die Brutkammer in einer Hühnerzucht der Agroholding Bezrk-Begrankorm.
Eine Arbeiterin platziert Eier für die Brutkammer in einer Hühnerzucht der Agroholding Bezrk-Begrankorm.
© IMAGO / ITAR-TASS

2004 wurden Ziele für Produktgruppen eingeführt, die zu 80 bis 95 Prozent Selbstversorgung erreichen sollten, darunter Getreide. Auch viele ausländische Akteure interessierten sich für ehemalige sowjetische Kolchosen, die sich nach anfänglicher Privatisierung auch durch das politische geförderte Engagement heimischer Milliardäre aus Industrie und Ölwirtschaft zu großflächigen Agroholdings entwickelten – eine Entwicklung, die sich mit dem globalen Wettbewerb zwischen Teller, Trog und Tank und dem rasanten Preisanstieg für Agrargüter von 2007/08 noch beschleunigte. Diese Holdings integrieren typischerweise Ackerbau und Verarbeitung, häufig mit Viehwirtschaft kombiniert.

Firmen wie Prodimex, Rusagro oder Miratorg produzieren auf 600.000 bis 800.000 Hektar Getreide, Futtermittel, Zuckerrüben, Ölsaaten, halten Nutztiere und verpacken Fleisch, beschreibt Susanne Wengler, Autorin des Buches „Black Earth, White Bread“ (Cambridge University Press) den Sektor. Mehr als 45 Holdings hielten mehr als 100.000 Hektar. Anfangs gab es billige Kredite für Landwirte zur Erschließung von Flächen, dem Kauf von Traktoren, dem Bau von Fabriken. Dann kamen Steuervorteile hinzu und schützende Handelsbarrieren. Der Erfolg zog neben russischen Oligarchen auch ausländische Investoren an – erst aus Agrarindustrie und Handel, später als Beteiligungskapital aus nordischen, italienischen oder amerikanischen Investment- und Rentenfonds, dazu teils arabisches, türkisches oder chinesisches Geld.

Produktivität stieg

„In den ersten zehn Jahren nach der Jahrtausendwende wurde auch viel Technologie aus den USA eingeführt“, sagt Wengler, Politikprofessorin an der University of Notre Dame in Chicago. „Die Holdings sprachen über eine technologische Renaissance, es gab einen starken Modernisierungsschub.“ Bis 2015 hatten sich die Getreideexporte verneunfacht, wird der führende Agrarberater Dmitry Rylko vom IKAR-Institut zitiert. 2017 überholte Russland die USA und Kanada mit Mengen um die 40 Millionen Tonnen als wichtigster Weizenexporteur der Welt. Mit einem Viertel aller globalen Ausfuhren hat der russische Weizenhandel damit selbst Abhängigkeiten geschaffen, vor allem in ärmeren Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum.

Ingesamt war Putin um 2010 herum beim Grad der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln und der angestrebten heimischen Produktivitätssteigerung aber von der Zielgerade seiner „Ernährungssicherheitsdoktrin“ noch weit entfernt. Eine aggressive Exportpolitik in Richtung Asien steigerte die Ausfuhren vor allem von Fleisch in Länder wie Vietnam. Schon die Annexion der Krim 2014 und die folgende Sanktionswelle dämpfte aber das Interesse ausländischer Investoren. Großzügige staatliche, von Putin verordnete Kredit- und Förderprogramme hielten den Sektor so attraktiv, dass er inzwischen vor allem von russischem Kapital lebt, wie Experte Visser sagt – wenn auch häufig von Offshore-Firmen in Zypern, die Geldern einen ausländischen Anstrich geben.

In einem Milchbetrieb der Agroholding Kuban in der Region Krasnodar bedienen Arbeiterinnen 2010 automatisierte Melktechnik.
In einem Milchbetrieb der Agroholding Kuban in der Region Krasnodar bedienen Arbeiterinnen 2010 automatisierte Melktechnik.
© IMAGO / ITAR-TASS

Eine bekannte Agroholding in Oligarchenhand ist die Firma Agrocomplex. Sie gehört dem früheren Agrarminister Alexander Tkatschew, davor Gouverneur der Getreidehochburg Krasnodar, der mit 660.000 Hektar laut einem Ranking von Forbes Russland einer der größten Grundstücksbesitzer des Landes ist. Agrocomplex wurde auch in Zusammenhang mit feindlichen Flächenübernahmen von Landwirten genannt. Der Fachdienst Agra Europe schreibt der Holding 60 Firmen in der Pflanzen- und Futtermittelherstellung sowie in der Fleisch- und Milchviehzucht und der Verarbeitung zu.

Sanktionen hinterlassen Spuren

Russlands heutiger Agrarminister ist ein Sohn von Nikolai Patruschew, dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates, der im jüngsten Sanktionspaket der US-Sanktionen bestraft wird (so wie Sohn Andrej, ein ehemaliger Chef von Gazprom Neft). Das Paket hat auch jegliche neue Investitionen in Russland unter Strafe gestellt. Was die russischen Agroholdings schmerzen würde, sind den Experten Visser und Wengler zufolge vor allem mittelfristige Faktoren – wie Preise und Verfügbarkeit von Saatgut, hochwertigem Dünger und intelligenter Landtechnik.

Wohl übt Moskaus Politik schon geraume Zeit Druck auf Agrarunternehmen aus, Betriebsmittel möglichst „made in Russia“ zu beziehen. Das könnte in der Tierhaltung schwierig werden, da Mais und Sojaprodukte importiert werden, sowie Futtermitteladditive wie Aminosäuren. Im Saatgutbereich sei Russland zwar bei Getreide Selbstversorger, wie auch bei Zuckerrüben oder Kartoffeln – für viele Hochertragssorten werde jedoch über internationale Konzerne wie Monsanto und Agarhändler wie Cargill Saatgut eingekauft. Auch der Einsatz von Düngemitteln und Herbiziden hat vor allem in der Getreidewirtschaft stark zugenommen. Moderne Mähdrescher oder Anlagen in Hühnerfarmen sind teilweise auf westliche Dienstleister für Wartung und Ersatzteile angewiesen.

„Es ist wirklich ein Test für Putins bisherige Politik, nachdem er das Land 20 Jahre lang auf Importsubstituierung eingeschworen hat“, meint Wengler. „Einige Konzerne wie Cargill, Monsanto oder der Maschinenhersteller John Deere werden sich kaum komplett von dem unglaublich lukrativen Markt zurückziehen.“ Sie seien teilweise mit eigener Produktion in Russland und müssten sich nicht so unmittelbar um möglichen Groll der Verbraucher kümmern, wie etwa eine McDonalds-Kette. „Sie werden die Krise aussitzen.“ Bisherige Finanzsanktionen hält Wengler für umgehbar, da spezielle Agrarbanken nicht betroffen sind, und im Handel auf nicht sanktionierte Banken ausgewichen werden könne.

Gesunkene Armada

Der europäische Blick von Visser von der Erasmus-Universität ist da etwas pessimistischer. Er erwartet in ein paar Jahren sinkende Erträge. „Sanktionen werden Holdings größere Kopfschmerzen bereiten, ihre Geschäfte neu zu orientieren und verteuerte westliche Betriebsmittel zu ersetzen.“ Ein erschwertes Marktumfeld habe teilweise, wenngleich in milderer Form, nach der Krim-Invasion auch zum Rückzug der drei nordischen Holdings Agrokultura, Agromino und Black Earth Farming (BEF) aus Russland beigetragen. In einer Studie wird dieser mit der „gesunkenen Armada“ dreier Flaggschiffe verglichen.

Gerade große Holdings hingen mehr von westlicher Schlüsseltechnik und Inputs ab als mittlere Unternehmen, die mit russischer Ausrüstung arbeiten, sagt Visser. Das könne Zuchtbetriebe für Vieh und Hühner mit Zulieferern aus Dänemark, den Niederlanden oder Deutschland ebenso betreffen, wie die verarbeitende Lebensmittelindustrie. Hochentwickelte westliche Agrartechnik sei weder aus russischer noch aus chinesischer Hand leicht zu ersetzen. So habe ein US-Anbieter von digitaler Ortungstechnik im „Smart Farming“ seine GPS-Signale für Russland kurzerhand gekappt. Visser dazu: „Ukrainische Hacker haben Traktoren bei vergleichbaren Pannen schon mal wieder flott bekommen.“

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