Die vergangenen Tage boten ein bitteres Erwachen – mindestens für große Teile des Berliner Regierungsbetriebs, wahrscheinlich aber auch für weite Teile des Landes: An der östlichen Flanke Europas droht Krieg. Mehr als 100.000 Soldaten hat Russlands Präsident Wladimir Putin an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen, dazu unzählige Panzer und hochmoderne Waffensysteme. Über seine genauen Absichten lässt er die Ukrainer und den Westen nur spekulieren. Doch es fällt schwer, dies, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Moskau ihrem russischen Kollegen Sergej Lawrow deutlich vorhielt, „nicht als Drohung aufzufassen“.
Das Erwachen ist bitter, weil sich nur Wochen nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung kaum noch jemand für die große Energiewende interessiert, die grüne Transformation der Wirtschaft und den klimaneutralen Wohlstand, den man doch eigentlich in den kommenden Jahren vorantreiben wollte. Oder für den digitalen Fortschritt und was sonst noch SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag festgehalten haben.
Ja, das bleibt alles wichtig und richtig, aber nun ist eine Frage dringender: Wie weit wird Putin gehen? Niemand weiß es, die Unruhe ist groß, auch in Berlin.
Die Begegnung mit der Realität zwingt alle Beteiligten dazu, ein paar alte Glaubenssätze, die man jahrelang vor sich hergetragen hat, zu korrigieren. So hat diese Woche ganz nebenbei Maßstäbe zurechtgerückt: Die Hingabe und Inbrunst, mit der wir in Deutschland mitunter große Debatten führen und uns in Auseinandersetzungen verbeißen, steht gar nicht so selten in einem krassen Missverhältnis zur Entwicklung da draußen, im Rest der Welt. Die Einführung einer Impfpflicht etwa ist sicher eine wichtige Frage, die man lange diskutieren kann – aber vielleicht sollten wir unsere Aufmerksamkeit mittlerweile eher der Wehrpflicht widmen. Oder zumindest dem Zustand unserer Armee, der Bundeswehr, ihrer Ausstattung, ihren Fähigkeiten und ihrer Verfassung.
Sehnsucht nach der alten Stärke
Putins Aufmarsch kam nicht überraschend, im Gegenteil: Vor bald einem Jahr hatte er ihn schon mal geprobt, an ähnlicher Stelle und in ähnlichem Ausmaß. Mehr noch, man kann nicht mal sagen, dass Putin in den über 20 Jahren, die er das Land nun führt, aus seinen Ansichten und Absichten jemals ein großes Geheimnis gemacht hätte. Es ging ihm immer darum, die Schmach der chaotischen 1990er-Jahre in Russland nach dem Kollaps der Sowjetunion wettzumachen, verlorene Macht wieder herzustellen, die ehemaligen Sowjetstaaten fest an Russland zu binden und die westliche Welt auf Abstand zu halten, allen voran die Truppen der Nato.
Diese Sehnsucht nach der alten Stärke und Ordnung, als zwei Großmächte die Welt unter sich aufteilen konnten, zieht sich von seinen ersten Jahren als russischer Präsident, seinem Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, dem Kaukasuskrieg in Georgien 2008, dem Tauziehen um ein neues Raketenabwehrsystem in Polen über die Besetzung der Krim 2014 bis zu einem langen, langen Essay aus dem vergangenen Sommer, in dem Putin seine Sicht und Interpretation der russisch-ukrainischen Beziehungen darlegte.
Der Westen, allen voran die USA und die Nato, haben all diese – berechtigten oder unberechtigten – Vorhaltungen stets zurückgewiesen, ignoriert oder lächerlich gemacht. Sicher gab und gibt es gute Gründe für die Positionen des Westens, dennoch war der Umgang mit Putin wohl nicht besonders klug. Jedenfalls ist der Forderungskatalog, den Russland kurz vor Weihnachten nach langem Schweigen dem Westen auf den Tisch geknallt hat, die Essenz all dieser Jahre. Im Kern geht es Russland um zwei Dinge: Keine weitere Expansion der Nato mehr nach Osten, insbesondere keine Nato-Mitgliedschaft für Staaten wie die Ukraine und Georgien, außerdem Rückzug der Nato-Truppen auf Stellungen vor der ersten Osterweiterung 1997.
Nord Stream 2 - eine überfällige Klarstellung
Das ist die Lage, wie sie sich seit Monaten angekündigt hat – und wie sie nun auch in Berlin und Washington zur Kenntnis genommen worden ist. Immerhin, diese Woche hat aber nicht nur Klarheit gebracht, sondern auch erste Anzeichen, wie sich der Konflikt noch lösen oder ein Krieg zumindest verhindern ließe.
Als erstes rang sich Bundeskanzler Olaf Scholz endlich, muss man sagen, zu einer wichtigen Klarstellung durch: Die neue Gaspipeline Nord Stream 2 wird nicht ans Netz gehen, wenn Putin die Ukraine überfällt. So klar war das von ihm bisher nicht erklärt worden, vielmehr hatten er und andere SPD-Vertreter bis zum vergangenen Wochenende erklärt, die Gaspipeline habe mit dem Konflikt um die Ukraine doch gar nichts zu tun (ein peinliches Beispiel für eben jene deutsche Realitätsverweigerung). Scholz’ Klarstellung war überfällig und wichtig, schafft sie doch die Grundlage für ein gemeinsames Vorgehen der Nato- und EU-Staaten. Sie treibt zudem den Preis in die Höhe, den Putin für eine Invasion des Nachbarn zahlen müsste. Und sie räumt auf mit Putins Hoffnung, er könne die Europäer mit seinem Gas auseinandertreiben.
Das war die zweite Erkenntnis dieser Woche: Jenseits aller Differenzen hier und da stehen die Nato-Staaten, die EU und die G7 einigermaßen geschlossen gegen Putin. Der hatte darauf gesetzt, dass sich die westlichen Staaten nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können, sollte er tatsächlich den Marschbefehl erteilen. Doch spätestens mit Scholz‘ Klarstellung kann er sich da nicht mehr sicher sein. Im Gegenteil: Er muss befürchten, dass er das Gegenteil erreichen würde und bei einem Krieg selbst bisher neutrale Staaten wie Finnland und Schweden schnell unter den Schirm der Nato flüchten würden.
Biden kommt Putin entgegen
Noch wichtiger aber war ein Satz von US-Präsident Joe Biden, der in seinem ziemlich verstolperten und unglücklichen Auftritt vor der Washingtoner Presse am Mittwoch fast unterging: „Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass die Ukraine in näherer Zeit Mitglied der Nato wird“, sagte Biden. Auch über die Stationierung bestimmter Waffenarten könne man sprechen, wenn Putin dies auch auf seinem Territorium zulasse. Überhaupt gebe es viel Raum für Gesprächsmöglichkeiten, so Biden.
Es sind genau solche Zusicherungen und Angebote, die Putin seit Jahren einfordert. Und es sind Zusicherungen, die die Nato-Spitze bisher vermieden hat – stattdessen dozierte ihr Generalsekretär noch zu Wochenbeginn lieber über die Prinzipien der freien Bündniswahl, was Putin nur weiter provozierte.
Dabei kosten Sätze wie der von Biden den Westen wenig. Gegenwärtig erfüllt die Ukraine ohnehin nicht die Voraussetzungen für eine Nato-Mitgliedschaft. Und solange Putin die Krim besetzt hält, wird dies auch so bleiben. Solche Kompromisse und Deals sind nicht schön, ihnen haftet immer ein Geruch von Niederlage und Verrat an. Sie werden deshalb insbesondere den Ukrainern nicht gefallen. Doch auch sie wissen, dass die Nato-Perspektive auf absehbare Zeit unrealistisch ist. Will der Westen wegen eines Prinzips und einer Hoffnung, von der alle wissen, dass sie spätestens seit 2014 unrealistisch ist, wirklich einen Krieg und eine unabsehbare Eskalationsspirale riskieren? Wohl eher nein.
Ob ein Krieg verhindert werden kann, weiß nur Wladimir Putin. Aber gewissermaßen ist das die gute Nachricht dieser Woche: Der Krieg, der da droht, ist auch ein Krieg um Worte. Und genau hier beginnt die Politik.

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