Die Nachricht dieser Woche lautet: Olaf Scholz ist nicht Joe Biden. Das gilt selbstverständlich für seine körperliche und mentale Verfassung – der 66-jährige Scholz ist unzweifelhaft um einiges fitter als der 15 Jahre ältere amerikanische Präsident. Und das gilt offenkundig auch für sein Amtsverständnis: Anders als Biden hegt Scholz keinerlei Absicht, sein Amt als Bundeskanzler in absehbarer Zeit freiwillig zu räumen, auch nicht für einen anderen, vielleicht beliebteren und aussichtsreicheren Spitzenkandidaten seiner SPD für die Bundestagswahl im kommenden Jahr. „Ich werde als Kanzler antreten, um erneut Kanzler zu werden“, stellte Scholz kurz und knapp vor der Berliner Sommerpause in einer Pressekonferenz diese Woche klar.
Sommer-Pressekonferenzen sind ein festes Ritual im Berliner Politik- und Medienbetrieb. Jedes Jahr stellt sich der jeweilige Amtsinhaber den Fragen der Berliner Journalisten, bevor er oder sie dann in den Urlaub verschwindet. Und jedes Mal ist der Auftritt – für beide Seiten – eine schmale Gratwanderung zwischen aufrichtigen Fragen und Auskünften und eitler Profilierungssucht. Denn natürlich ist so eine Pressekonferenz kein Ort, an dem ein Kanzler ernsthaft seine Ambitionen und seine Zukunft öffentlich verhandeln würde. Das weiß er und das wissen die Fragenden. Andererseits wäre es auch merkwürdig, in Vorausahnung dieser absehbaren Weigerung die naheliegendsten Fragen nicht zu stellen. Und so werden diese Termine notwendigerweise zu einer Tänzelei um Allgemeinplätze und gezielte Unverschämtheiten.
Wenn der letzte Auftritt des Kanzlers vor der Sommerpause eine Erkenntnis zu Tage förderte, dann diese: Eine Realität, die ihn in irgendeiner Weise interessieren müsste oder herausfordern könnte, gibt es für Olaf Scholz hierzulande nicht. Umfragewerte sind Umfragewerte und eben keine Wahlergebnisse, dasselbe gilt für Popularitätswerte möglicher Konkurrenten – alles bestenfalls flüchtige Momentaufnahmen, die morgen schon vergessen sein können. Nichts, wonach sich ein Kanzler und Amtsinhaber richten müsste. Ebenso wenig die Frustration von eigenen Ministern und der Widerstand des eigenen Fraktionsvorsitzenden, oder Ungereimtheiten in der Haushaltsplanung: alles vergänglich, irgendwie irgendwann lösbar und damit bereits jetzt nicht weiter von Belang.
Einfach immer weitermachen
Schon immer war Scholz ein Meister der Autosuggestion. Ein Großteil seiner Karriere und spätestens sein Aufstieg vom Finanzminister zum Bundeskanzler (trotz einer rüden Abfuhr in seiner SPD, als es um den Parteivorsitz ging) beruhte genau darauf: allen Zahlen, Einschätzungen und Überzeugungen der anderen zum Trotz den Glauben an das eigene Können nicht aufzugeben und einfach immer weiterzumachen. Bis er endlich da war, wo er immer hinwollte: im Kanzleramt. Alle Zweifel und Unzulänglichkeiten einfach wegnegieren – genauso will es Scholz weiterhin halten, mag seine SPD bei den kommenden Landtagswahlen noch so schlecht abschneiden. „Meine Überzeugung ist, dass wir die Sache gedreht bekommen“, sagte er.
Politik als Wille und Vorstellung, dieses Motiv ist nicht komplett neu. Es gab auch in Deutschland immer wieder Politik-Darsteller, die vor allem das waren, was sie selbst – mitunter auch nur phasenweise – als Bild von sich vermitteln wollten: Gerhard Schröder etwa, Guido Westerwelle auch, oder Karl-Theodor zu Guttenberg. Doch in all diesen Fällen gab es immer eine Phase, in denen das Bild verfing, in denen sich Wille und Ehrgeiz wenigstens eine Zeit lang übertrugen auf einen kritischen Teil der Bevölkerung: Schröder, der Macher; Westerwelle, der Rächer der Steuerzahler; Guttenberg, der Alles-Könner. Nur bei Scholz blieb immer der Verdacht, dass sein Wahlsieg 2021 mit gerade mal 25,7 Prozent der Stimmen ein bestenfalls glücklicher Zufall der Geschichte war. Weil die anderen eben noch schwächer waren. Wobei man Scholz zumindest zugestehen muss, dass er als einer von ganz wenigen an diese glückliche Fügung tatsächlich immer geglaubt und auch alles dafür getan hat, damit es so kommt.
Was nun zu der Frage führt, ob Scholz tatsächlich dieses Wunder in eigener Sache noch ein zweites Mal vollführen kann: noch mal Kanzler – wider alle Umfragen, Stimmungen, Prognosen und Gegenkandidaten?
Ganz ausschließen kann man dieses Wunder nicht, immerhin hat er es schon einmal geschafft. Zudem ist der aktuelle Vorsprung seiner Gegner, allen voran des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, längst nicht so gefestigt, wie es heute scheint.
Andererseits spricht dieses Mal doch sehr viel dagegen: Anders als 2021 ist die Methode der Autosuggestion heute bekannter, sie wird sehr viel genauer analysiert und mit der Realität, wie sie die meisten Menschen bis auf den Kanzler offenkundig wahrnehmen, abgeglichen werden. Zumal Scholz diesmal, anders als 2021, nicht aus der Position eines weithin akzeptierten Fachministers startet, sondern als Chef vom Ganzen nun wirklich für alle Zweifel und Miseren dieser Regierung haften wird. Und drittens ist, anders als von ihm erhofft, da draußen in der Welt seines Wahlvolkes keine Wende zum Besseren in Sicht: kein glorreicher Aufschwung, der neue Jobs und neuen Wohlstand verspricht, kein Durchbruch auf Schiene und Straße, mit dem plötzlich wieder der Verkehr rollen würde und kein Transporter, der die öffentliche Verwaltung mal eben ins 21. Jahrhundert beamen würde.
Wer sagt es ihm?
Wenn man Scholz wohlgesonnen ist, muss man sagen, dass genau darin seine Kanzlerqualitäten liegen können: mit unbedingtem Willen das Unmögliche zu schaffen. Olaf Scholz als sozialdemokratische Version von Tom Cruise – es sieht so aus, als wenn zumindest Scholz diese Idee nicht ganz abwegig finden würde.
Man kann diese Eigenschaft aber auch kritischer würdigen – als eben jene Verweigerung gegenüber der Realität, die auch einem Joe Biden schließlich zum Verhängnis wurde. Der wollte auch viel zu lange nicht wahrhaben, dass er nicht mehr über die Kondition für einen Wahlkampf und weitere vier Jahre im Präsidentenamt verfügt. Der Rochade mit seiner Stellvertreterin Kamala Harris stimmte er erst zu, als ihm selbst die treuesten Freunde ihre Gefolgschaft aufkündigten. Folgt man dieser Linie, dann kann es mit Scholz noch eine ganze Weile so weitergehen – bis die Sozialdemokraten die Panik erfasst. Und Scholz doch den Biden macht.