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Bernd Ziesemer Rubelverfall - das Fieberthermometer der russischen Krise

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Der Verfall des Rubels erhöht das gewaltige soziale Gefälle im Reich Wladimir Putins. Die Mittelschichten verlieren, die ganz Reichen gewinnen

Man kann es die Wechselstubenwirtschaft nennen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion vor über 30 Jahren leben die Menschen in Moskau, Petersburg und anderen großen Städten mit der „Dollarisazija“ – einem Nebeneinander von harten Währungen und dem heimischen Rubel. In jeder Krise tragen die wohlhabenderen Russen ihr Geld an die Schalter der Wechselstuben und tauschen es gegen Euro und Dollar. Jetzt ist es mal wieder so weit: Der Verfall des Rubels, eine direkte Folge von Putins Krieg in der Ukraine, treibt die kleine obere Mittelschicht in Scharen zum Umtausch von Bargeld. Anders als die Superreichen, die über Auslandskonten und andere Möglichkeiten verfügen, kann sich der etwas wohlhabendere Großstädter nur so vor den Folgen der Inflation schützen.

Die Masse der russischen Bevölkerung aber kann gar nichts tun. Rund 40 Prozent der gut 140 Millionen Russen leben unter der Schwelle der Armut. Viele von ihnen, vor allem auf dem Lande und in kleinen Städten, hatten noch nie einen Greenback oder Euro-Schein auf dem Tisch. Sie leben von der Hand in den Mund und verfügen über keinerlei Sparguthaben, die sie umtauschen könnten. Die meisten von ihnen kommen nur über die Runden, weil sie Kartoffeln und Kohl im eigenen kleinen Garten anbauen. Sie schauen nur auf wenige Ladenpreise – vor allem Brot, Einmachzucker und Wodka. Mehr können sie sich ohnehin nicht leisten. Das Regime bemüht sich, diese Preise einigermaßen stabil zu halten.

Kein Zeichen der Rebellion gegen Putin

Der jetzige Verfall des Rubelkurses erhöht das ohnehin gewaltige soziale Gefälle in Russland. Die unteren Mittelschichten in den Städten gehören zu den größten Verlierern. Sie hatten sich in den Zeiten des Öl- und Gas-Booms an den Genuss westlicher Importwaren gewöhnt, die sich in den letzten Monaten weitaus stärker verteuert haben als heimische Produkte. Der Unmut dieser Russen, die sich zunächst einfach aus dem Ukrainekrieg heraushalten wollten, als wäre nichts geschehen, wächst von Woche zu Woche. Je mehr ihrer Kinder die Einberufung fürchten müssen, je häufiger ukrainische Drohnen über ihren Städten auftauchen und je deutlicher sie die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs am eigenen Leibe spüren, umso brüchiger wird ihr Vertrauen in Putin.

Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass sich diese Russen irgendwann offen gegen Putin wenden könnten. Zeichen der Rebellion sieht man so gut wie nirgendwo. Selbst wenn der Rubel in Bodenlose fallen sollte, was eher unwahrscheinlich ist, werden die Russen nicht aufbegehren. Es gibt keine Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft mehr, die Widerstand organisieren könnten. Die Repression wächst, aber nur sehr wenige mutige Einzelgänger wehren sich noch gegen die Diktatur.

Der Niedergang der Wirtschaft dürfte sich weiter beschleunigen. Der Rubel wirkt wie ihr Fieberthermometer. Aber auch eine offene Krise wird die Kriegsmaschinerie nicht stoppen. So lange Putins Regime Erdöl und Erdgas in aller Welt verkaufen kann, wird genügend Geld für den Krieg vorhanden sein. Nur eine deutliche militärische Niederlage in der Ukraine kann die Verhältnisse in Russland zum Tanzen bringen.

Bernd Ziesemer

ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.

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