Die Parks waren voll, die Urnen blieben leer. Am Wahlsonntag hatte Frankreich nicht nur in Paris ganz offensichtlich sein Corona-Trauma überwunden, strebte hinaus, nur eben nicht in die Wahllokale. Von 48 Millionen wahlberechtigten Franzosen fanden überhaupt nur 15 Millionen den Weg in die Wahlkabine, als es um die neuen Chefs und Abgeordneten für die Regionen ging. So eine blamable Beteiligung hatte es bei hunderten Wahlen in der fünften Republik noch nie gegeben. In rund 30 Wahllokalen in Marseille konnte die Wahl sogar erst verspätet starten, weil auch die Wahlhelfer schwänzten. Schlangen vor den Gebäuden hat aber trotzdem niemand gesichtet. Die Szenen illustrieren wie weit die Krise der französischen Demokratie schon gekommen ist und sie wurden überwiegend mit Achselzucken aufgenommen.
Das belegt zuallererst ein tiefes Versagen von Präsident Emmanuel Macron. Er war vor vier Jahren angetreten und wollte die Erneuerung der französischen Politik verkörpern, als Antwort auf die Krise. Diese scheint er in den Augen der Wähler inzwischen ganz genauso zu repräsentieren, wie seine Gegner aus der traditionellen Politik. Macrons Bewegung La République en Marche sollte die Antwort auf die delegitimierten alten Parteien sein. Doch das Vakuum in der französischen Politik ist mit Macron nicht kleiner, sondern größer geworden.
Fast die Hälfte der Wähler fänden keine Kandidatin bzw. keinen Kandidaten mehr, die oder der ihren Wünschen entspricht, schlussfolgerte etwa Demoskop Francois Miquet-Marty vom Umfrageinstitut Viavoice aus seinen Untersuchungen. Das gleiche gelte für die Programme der Parteien.
Macron hat die Erwartungen nicht erfüllt
Macrons Bewegung spielte bei den Regionalwahlen keine Rolle . Rein zahlenmäßig landete sie auf Platz fünf, hinter der konservativen Partei Republicains, hinter dem rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen, hinter den Grünen und sogar hinter den Sozialisten. In keiner Region wird sich in der zweiten Runde der Wahlen am kommenden Wochenende die Hoffnung der Macron-Leute erfüllen, zumindest einzelne Gebietskörperschaften künftig beherrschen zu können. Natürlich, Macrons Bewegung hat sich nie eine regionale und kommunale Verankerung verschaffen können, wie auch schon die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr gezeigt haben. Natürlich, in der jetzigen Lage kurz nach dem Corona-Lockdown wäre es für jeden Präsidenten schwer, die Wähler in Massen an die Urne zu treiben.
Aber Macrons Versäumnis liegt tiefer: Das Versprechen, dass La République en Marche eine Art Graswurzelbewegung werden sollte, eine Idee der partizipativen Demokratie, das aus der Frustration der Wähler ein konstruktives Modell macht, das neue Gedanken nach ganz oben bringt – dieses Versprechen wurde sofort nach Macrons Wahl wieder einkassiert. Seine Partei ist Mehrheitsbeschaffer für den Präsidenten, sie wird von oben zentral gesteuert und dient der Beförderung von Karrieren, mehr nicht. Und weil seine Partei damit so den alten Parteien gleicht, die die Franzosen satthatten, schafft sie es noch schlechter als jene, irgendwo im Land nennenswerte Ergebnisse zu erzielen.
Auch für Le Pen ist es eine Niederlage

Die zweite große Verliererin ist die, die sich anschickt, Macron im kommenden Jahr herauszufordern, wenn es um die Präsidentschaft geht: Marine Le Pen. Ihre Rechtsextremen haben bei der Wahl nicht nur schlechter abgeschnitten als zuvor prognostiziert, sondern auch gegenüber der letzten Wahl schmerzlich verloren. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil Le Pen und ihre Leute in der Vergangenheit stets von ihrer Mobilisierungskraft profitiert haben – je niedriger die Wahlbeteiligung war, desto besser ihre Ergebnisse. Dieses Mal war es andersherum, was auch daran lag, dass gerade die Jungen den Urnen fehlblieben, unter denen Le Pen überproportional viele Wähler hat.
In der Hälfte aller Regionen hatte sich Rassemblement National Chancen ausgerechnet, jetzt hat sie allenfalls in einer noch die Möglichkeit, den Präsidenten zu stellen: In ihrer traditionellen Hochburg im Südosten, Provence-Alpes-Côtes-d’Azur. Zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl ist somit auch die Herausforderin geschwächt. Das dürfte daran liegen, dass auch Le Pen inzwischen zu den etablierten Figuren des französischen Politzirkus zählt und weniger ihre Rolle als diejenige spielen kann, die diesen Zirkus angreift.
Der Präsident ist kein Hoffnungsträger mehr
Manch einer in Frankreich spricht nun schon von der Renaissance der Traditionsparteien – weil die Konservativen (Les Républicains) und, mit Abstrichen, die Sozialisten in ihren alten Hochburgen reüssieren konnten. Aber das muss nicht bedeuten, dass die Alt-Parteien ein Comeback schaffen. Ihre Traditionswähler sind einfach nur überproportional zur Wahl gegangen, ihre Kandidaten sind regional verankert und es war eben überwiegend eine Personenwahl. Alles wird überlagert vom Mangel an Alternativen und dieser Mangel ist es, der den Demokratie-Frust im Land stärker und stärker werden lässt.
Dennoch bleibt das Szenario wahrscheinlich, dass sich im kommenden Frühjahr Macron und Le Pen gegenüberstehen – und es bleibt auch recht wahrscheinlich, dass Macron noch einmal knapp gewinnt, weil die Zahl der zähneknirschenden Vernunftwähler eben ausreicht. Selbst wenn es so kommt: Ein Hoffnungszeichen, wie noch vor vier Jahren wäre eine solche Wahl dann nicht mehr. Die Erosion der französischen Demokratie scheint derzeit unaufhaltsam. Macron ist im freien Feld.

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