Capital: Frau Haesler, zum wiederholten Mal wurde diese Woche ein Handelsschiff auf einem Seeweg im Nahen Osten angegriffen. Die Huthi-Rebellen wollen angeblich nur noch Frachter mit Hilfsgütern für den Gazastreifen durchlassen und alle anderen als „legitimes Ziel“ ihrer Streitkräfte betrachten. Was bedeutet das für den Handel auf dem Seeweg?
IRINA HAESLER: Was die Huthi-Rebellen jetzt angekündigt haben, ist de facto eine Blockade Israels. Sie wollen erreichen, dass keine Waren mehr nach Israel gelangen. Bei der betroffenen Region im Roten Meer handelt es sich allerdings um die Zufahrt zum Suezkanal. Das ist eine der am meisten befahrenen Wasserstraßen der Welt mit 65 Schiffen pro Tag, 12 Prozent des weltweiten Warenverkehrs werden hierdurch abgewickelt. Deswegen ist die derzeitige Situation ganz klar eine Bedrohung für den freien Warenverkehr und die Lieferketten. Die Ankündigung der Huthis, unabhängig von der Flagge alle Schiffe mit dem Ziel Israel angreifen zu wollen, verleiht dem nochmal eine neue Qualität.
Können die Huthis denn überhaupt unterscheiden, welches Schiff Israel als Ziel hat und welches nicht?
Genau das ist das Risiko der Reedereien. Niemand weiß, nach welchen Kriterien die Huthis letztlich entscheiden und es können auch Angriffe fehlgehen, also versehentlich andere Schiffe treffen. Deshalb besteht eine generelle Gefahr für sämtliche Handelsschiffe, die momentan das Gebiet im Roten Meer passieren.
Im Fokus steht gerade vor allem die Straße von Bab el-Mandeb, die das Rote Meer und den Golf von Aden trennt. Welche Güter werden dort entlang transportiert?
Dort wird wirklich alles transportiert: Lebensmittel, Möbel, Medikamente, Getreide, Zement, Kohle, natürlich Öl und Flüssiggas, was besonders für Europa wichtig ist. Wenn in diesem Gebiet nichts mehr ginge, würde das also nicht nur einen bestimmten Warenbereich betreffen, sondern wäre allumfassend.
Europa bezieht sein Öl und Flüssiggas in besonderem Maße über das Rote Meer. Europa und Deutschland wären also besonders stark betroffen.
Grundsätzlich ist die aktuelle Sicherheitslage für sämtliche Staaten ein Problem. Aber der Suezkanal ist das Tor nach Europa, und zwar sowohl für den Import als auch für den Export. Hier wird vor allem der Handel zwischen Europa und Asien betrieben. Der Verkehr dort ist also zum einen wichtig, um unsere Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Zum anderen ist Deutschland als Exportland besonders betroffen, wenn die Handelsschifffahrt durch unsichere Seewege in Mitleidenschaft gezogen wird.
Sind denn schon Auswirkungen spürbar?
Kurzfristige Auswirkungen gibt es bisher nicht. Wir haben noch keine leeren Supermarkt-Regale wie zu Corona-Zeiten. Mittelfristig könnte sich das aber ändern, wenn sich die Situation zuspitzt und Schiffe über das Kap der Guten Hoffnung bei Kapstadt ausweichen müssen. Das ist die einzige Alternativroute und verlängert den Seeweg um 14 Tage. Das sorgt natürlich für Verzögerung in den Lieferketten. Bisher wird diese Ausweichroute aber erst vereinzelt genutzt.
Ein längerer Seeweg bedeutet wahrscheinlich auch höhere Kosten.
Die Rechnung lässt sich nur schwierig machen, weil auch die Passage durch den Suezkanal mit hohen Kosten verbunden ist und die Versicherungsprämien für die Route durch das Rote Meer stark gestiegen sind. Die Kosten, die bei einer längeren Seeroute entstehen, sind in erster Linie Treibstoffkosten. Dazu kann es Änderungen in den operativen Abläufen geben, wenn das Schiff 14 Tage später im Hafen ist. Und natürlich ist ein längerer Weg auch klimaschädlicher, weil viel mehr CO2-Emissionen verursacht werden als beim kurzen Weg durch den Suezkanal.
Wie viel mehr müssen Reeder aktuell für Versicherungen bezahlen, wenn sie durchs Rote Meer fahren wollen?
Da haben wir leider keine Einsicht. Die Höhe der Prämie hängt von der Risikoeinschätzung der Versicherer ab, also, ob ein Schiff zum Beispiel USA-Bezug hat oder sogar israelischen. Israelische Schiffe werden gerade teilweise gar nicht mehr versichert.
Welche Reedereien und Nationen fahren durch die Wasserstraße am Roten Meer?
Da fahren sehr viele durch. Schiffe mit europäischem Bezug haben aber einen sehr großen Anteil. Deswegen besteht bei uns im Verband auch der Wunsch nach einem Handeln von staatlicher beziehungsweise europäischer Seite.
Wann wird es zu gefährlich, die betroffene Meerenge zu durchfahren?
Das ist eine schwierige Frage. Gerade entscheiden die Reedereien anhand aktueller Lageberichte und Sicherheitseinschätzungen auf sehr kurzfristiger Basis, ob sie ihr Schiff durch bestimmte Seegebiete schicken oder nicht. Es gibt momentan niemanden, der sagt: In einer Woche geht mein Schiff und es ist kein Problem das loszuschicken. Anders als bei Piraterie, wo die Angreifer mit einem Boot ans Schiff ranfahren, haben die Huthis bei den jüngsten Vorfällen mit Geschossen aus der Luft attackiert. Es gibt zwar viele Sicherheitsvorkehrungen an Bord eines Schiffes und klare Abläufe für den Fall bestimmter Bedrohungslagen, aber bei Luftangriffen sind die Schiffe ausgeliefert. Das macht die Situation gerade so heikel.
Reeder fordern, den militärischen Schutz in Nahost zu verstärken. Führt an einer Aufrüstung in der Region gerade kein Weg vorbei?
Aufrüstung würde ich es nicht nennen, es geht um mehr militärische Ressourcen. Die USA haben schon in der vergangenen Woche zu einer internationalen Partnerschaft aufgerufen, und sind genau wie Frankreich bereits mit Fregatten vor Ort. Der Tanker mit norwegischer Flagge, der am Montag beschossen wurde, wäre sonst wohl härter getroffen worden. Wir brauchen jetzt eine koordinierte EU-Mission zusammen mit Norwegen, den USA, Großbritannien und wer sonst noch mitmachen will. Das ist ein Problem größeren Ausmaßes, das am Ende des Tages unser aller Wohlstand und Freiheit bedroht. Alle europäischen Reedereiverbände haben diese Woche miteinander gesprochen und sind sich einig, dass hier von EU-Seite gehandelt werden muss. Die militärische Präsenz einer Staatengemeinschaft zur Sicherung des Seewegs allein ist schon ein Zeichen an die Region.
Wie muss die Mission im Roten Meer aussehen, damit sie tatsächlich wirksam ist?
Ein Schiff oder eine Fregatte werden nicht reichen. Wir als Reeder schlagen vor, den Anwendungsbereich der Mission Atalanta zu auszudehnen. Diese Mission läuft am Horn von Afrika vor Somalia und dient der Eindämmung der Piraterie und ist schon implementiert. Wir haben jetzt nicht die Zeit, erstmal zwei Jahre zu diskutieren, sondern müssen schnell für mehr Sicherheit sorgen. Da bieten sich bereits laufende Missionen an.
Welche Sprengkraft hat die derzeitige Situation mit Blick auf eine weitere Eskalation des Nahostkonflikts?
Eine Eskalation wie jetzt mit dem Angriff der Hamas auf Israel hat es so seit langer Zeit nicht mehr in der Region gegeben. Die komplette Region ist dadurch instabil geworden zusätzlich zu einer ohnehin geopolitisch instabilen Situation. Meiner Einschätzung nach ist mit allem zu rechnen. Es wäre falsch zu sagen, das gibt eine Katastrophe. Aber es wäre genauso falsch, einfach von einer Entspannung auszugehen. Wir müssen uns zumindest darauf einstellen, dass der Konflikt noch länger anhält und auch noch schlimmer werden könnte.
Die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg haben gezeigt, wie leicht Lieferketten ins Wanken geraten können. Was würde ein reduzierter Verkehr durch diese Meerengen jetzt für die Weltwirtschaft bedeuten?
Einschränkungen auf Handelswegen haben immer Einfluss auf die Weltwirtschaft, ob das die Blockade im Suezkanal war oder die gestörten Lieferketten in der Coronazeit. Wenn Waren nicht mehr rechtzeitig und in ausreichender Zahl geliefert werden können, dann hat das Auswirkungen auf die Weltwirtschaft – vor allem wenn das über einen mittleren bis längeren Zeitraum so ist. Je länger so eine Blockade dauert und je weniger hoffnungsfroh auch Ökonomen auf die Situation blicken, desto größer sind die Auswirkungen. Und in der Schifffahrtsbranche spürt man die Auswirkungen natürlich sofort.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit also, dass durch die Lage im Roten Meer die Versorgungslage bedroht ist?
Eine Prozentzahl kann ich nicht nennen, dafür ist die Lage zu komplex. Klar ist: Wenn maritime Lieferketten gestört sind, ist die Versorgung in den entsprechenden Ländern gefährdet. Ein Großteil der Waren kommt schließlich über den Seeweg. Das bedeutet nicht, dass wir in Europa hungern müssen. Aber wir werden feststellen, dass Waren nicht verfügbar sind oder die Lieferzeit des Sofas drei Monate statt drei Wochen ist.