In diesen Tagen muss China seinen Platz als bevölkerungsreichstes Land der Welt räumen – stattdessen liegt nun Indien vorne. Und im Ranking der größten Volkswirtschaften will Indien bald an Deutschland vorbeiziehen. Wieder einmal wird Indien als neuer starker Wirtschaftspartner für den Westen gehandelt – als Alternative zu China. Warum es diesmal klappen dürfte, erklärt Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) Kiel im Interview mit ntv.de. Der Ökonom leitet dort das Forschungszentrum Innovation und Internationaler Wettbewerb.
Indien löst in diesen Tagen China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ab. Kann Indien auch Chinas wirtschaftliche Entwicklung wiederholen?
Dirk Dohse: Beim Wiederholen bin ich skeptisch, aktuell ist der Abstand zwischen den beiden Ländern doch noch sehr groß. Aber die längerfristigen Aussichten für Indien sind auf jeden Fall besser als die für China. Die Bevölkerung in Indien wird weiter wachsen, während sie in China kräftig schrumpft. Im Jahr 2100 wird China laut UN-Prognosen nur noch rund 770 Millionen, also halb so viele Einwohner haben wie heute. Indien wird dann fast doppelt so groß sein. Auch bei den Wirtschaftswachstumsraten, die der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert, sieht Indien in den nächsten Jahren besser aus als China. China hat jahrzehntelang mit zweistelligen Wachstumsraten dominiert, liegt aktuell aber bei unter fünf Prozent. Für Indien und einige afrikanische Länder liegen die Prognosen höher.
Welche Wachstumsraten schafft Indien zurzeit?
Zwischen sechs und sieben Prozent. Der IWF prognostiziert bis zum Jahr 2027 ein jährliches Wachstum in dieser Größenordnung, für China deutlich weniger: unter fünf Prozent.
Wächst allein durch die wachsende Bevölkerung auch die Wirtschaftsleistung?
Dadurch wächst die Wirtschaftsleistung insgesamt. Interessanter ist aber natürlich, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf entwickelt. Eine wachsende Bevölkerung, die arm bleibt, wünscht sich niemand. Das ist das große Problem, das auf Indien zukommen könnte. Das Bevölkerungswachstum – die vielen jungen Menschen, das große Arbeitskräfte- und Nachfragepotenzial – wird aber insgesamt einen starken Wachstumsschub auslösen.
Was sind dabei die stärksten Treiber, der IT-Sektor?
Im Wesentlichen sind es Dienstleistungssektoren. Der IT-Sektor ist wichtig, Bangalore ist ein weltweites Zentrum dafür. Ein ganz wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum sind seit einigen Jahren auch die Infrastrukturinvestitionen. Der indische Staat investiert jedes Jahr umgerechnet gut 100 Mrd. Euro in Infrastruktur. Das ist auch dringend nötig, weil es eines der größten Entwicklungshemmnisse der vergangenen Jahrzehnte war.
Indien will in wenigen Jahren vom aktuell fünften Platz zur drittgrößten Volkswirtschaft nach den USA und China aufsteigen. Wann kann das Schwellenland aus Ihrer Sicht Deutschland und Japan überholen?
Wenn Indien weiter wächst wie bisher und wir weiter wachsen wie bisher – also in deutlich niedrigeren Raten –, dann könnte es Anfang der 2030er-Jahre oder sogar schon Ende dieses Jahrzehnts so weit sein.
Sehen Sie Probleme, die das verhindern könnten?
Probleme gibt es reichlich in Indien. Bisher war die Infrastruktur ein Riesenproblem, in vielen Metropolen gab es erhebliche Verkehrsengpässe, Energieprobleme und dergleichen. Nun wird einiges getan, aber diese Engpässe bei kritischen Infrastrukturen bleiben auf absehbare Zeit ein Hemmnis. Daneben ist Korruption ein großes Problem, auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht China deutlich besser da als Indien. Außerdem gilt die Bürokratie in Indien als sehr langsam und schleppend. Das Kastenwesen ist sicher auch kein Treiber, sondern das Gegenteil. Hinzu kommen religiöse und politische Spannungen. Aus meiner Sicht kommt es sehr darauf an, ob dieses Wachstum von einem Beschäftigungswachstum begleitet wird oder nur ein kleiner Teil der Bevölkerung profitiert und andere Menschen abgehängt werden. Dann könnte es auch zu größeren politischen Spannungen kommen.
Indien wurde schon öfter als Hoffnungsmarkt gehandelt. Warum sollte es diesmal klappen?
Die Bedingungen sind im Moment günstig. Zum einen die Infrastrukturinvestitionen, zum anderen spielt die geopolitische Situation Indien in die Hände. Europa und die USA brauchen neue Partner, wollen unabhängiger von China werden. Auch andere Länder wie Russland suchen neue Partner. Die Russen exportieren billiges Gas nach Indien. Und Unternehmen wie Foxconn, die sehr stark von China abhängig sind, sind dabei, Teile ihrer Produktion nach Indien zu verlagern.
Wie groß ist dieses Potenzial, dass Indien China als Wirtschaftspartner ablöst?
Indien hat auf jeden Fall großes Potenzial, und China hat zurzeit viele Probleme. Eines der größten sind die Folgen der Ein-Kind-Politik. Dass die Chinesen im Schnitt viel älter sind als die Inder, ist auf lange Sicht ein Nachteil. Und dann ist da die geopolitische Lage: Investitionen in China werden zunehmend riskanter. Die Investitionen westlicher Unternehmen sind noch hoch, Neuinvestitionen aber selten. Der schwelende Konflikt mit den USA schadet China wahrscheinlich mehr als den USA.
Mit welchen Partnern könnte sich der Westen am besten unabhängiger von China machen?
Indien ist eine der besten Alternativen zu China. Die andere ist Afrika. Es hat ähnliche Aussichten wie Indien, kommt aber von einem viel niedrigeren Niveau. Afrikanische Länder werden in den nächsten 50 Jahren wahrscheinlich noch viel stärker wachsen. Entgegen der eigenen Ankündigungen ist die Abhängigkeit des Westens von China allerdings noch größer geworden, unsere Handels- und Investitionsbeziehungen mit China haben derzeit ein Rekordniveau erreicht.
Ist Indien für Deutschland eine Alternative zu China? Bundeskanzler Scholz und Indiens Premierminister Modi wollen die Wirtschaftsbeziehungen deutlich ausbauen und setzen sich für ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien ein.
Für Deutschland ist Indien auf jeden Fall eine Alternative, da ist noch sehr viel Luft nach oben. Deutschlands Außenhandelsumsatz mit China liegt bei 300 Mrd. Euro, mit Indien bei etwa 30 Mrd. – obwohl beide Länder ähnlich groß sind. Da kann also noch viel ausgebaut werden. Auch die deutschen Investitionen in China sind viel höher als in Indien, da lässt sich noch einiges machen. Einzelne deutsche Unternehmen profitieren bereits von dem Infrastrukturausbau: Siemens, Airbus und die Deutsche Bahn verdienen gutes Geld in Indien. Aber das ist alles noch relativ wenig im Vergleich zu den Wirtschaftsbeziehungen zu China.
Wäre eine stärkere Abhängigkeit von Indien nicht ähnlich problematisch wie die von China?
Grundsätzlich ist es erstmal gut, zu diversifizieren. Es ist sinnvoll, sich von China weg- und auf Indien zuzubewegen. Die Handelsbeziehungen zu Indien sind ja noch gar nicht besonders stark. Außerdem gibt es politisch große Unterschiede. Indien gilt als größte Demokratie der Welt, wenn auch inzwischen umstritten. Modi regiert sehr autokratisch, aber im Vergleich zu China ist Indien uns in politischer Hinsicht immer noch deutlich näher.