Oft hört man jetzt von Menschen, sie wollten nicht in ihr altes Leben zurück. Oder sie wollen wesentliche Teile davon nicht mehr zurück. Die vielen Reisen, das Gehetztsein, die tote Zeit an irgendwelchen Gates, die langen Abende.
Auf öden Empfängen und Veranstaltungen, die Konferenzen, auf denen man am Smartphone spielt, Termine quer durch Deutschland und rund um die Welt. Der Shutdown hat eine Sehnsucht hervorgerufen: erst nach einem Stopp, dann nach einem Nicht-mehr-wieder, dann nach Veränderung.
Und das ist doch das Eigentümliche: Es brauchte eine Pandemie, uns die Augen zu öffnen. Nicht bei allen natürlich. Mir wurde auch viel Sehnsucht nach der Welt von gestern berichtet – von Menschen, die von Begegnung und Austausch und Netzwerken leben. Sie ziehen daraus ihren Sinn, ihre Erfüllung und oft ihren Lebensunterhalt. Es gibt auch Menschen, die das Büro als Struktur und Energiequelle brauchen – sie sehen und spüren um den Laptop zu Hause oft Leere.
Wiederum andere wollen das Unterwegssein als Kulisse. „Ich brauche das“, gestand mir vor Kurzem der Partner einer Beratung. Die Geschäftsreise, der Rollkoffer über Rollbänder, die Taxis zu den Terminen, das Meeting, der Deal, all das auf einer Bühne der Bestätigung: Hier bewegt sich etwas, weil du dich bewegst.
Stockendes Hamsterrad
Warum aber ist der Chor derer so laut, die sich das alte Leben nicht zurückwünschen? War ihr Leben zuvor so leer, schlimm oder absurd?
Oft sind es tatsächlich Brüche und Einschnitte, die uns innehalten lassen: Das Hamsterrad stockt, die Hektik bricht ab. Kurz hören wir das Leben und nicht nur das Streben, das alles übertönt. Manchmal ist es ein Schicksalsschlag, eine Krankheit oder ein Unfall. „Das war’s“, sagte ein Bekannter von mir zu seinem Chef nach einem schweren Autounfall. Er konnte und wollte nicht mehr zurück, auch wenn der Chef es wollte; er spürte das nächste Kapitel.
Unser Leben ist oft so vollgestopft mit Dingen, die alle ganz dringend sind, dass wir in diesem Dröhnen die Ich-Frage „Was will ich eigentlich tun und erreichen?“ nicht mehr hören. Wie eine Melodie, die vom Lärm des Alltags übertönt wird.
Auch abends hören wir sie nicht, auf dem Sofa, die Flasche Wein ist offen, Netflix läuft in der Endlosschleife. Der Rest ist der Zwang, den jede Generation spürte: Haus oder Wohnung – muss ja abbezahlt werden –, die Hobbys der Kinder, SkiUrlaub, das Ferienhaus, am besten mit Pool. Ein Lifestyle-Apparat, den wir errichten, ausbauen, genießen, der uns aber auch gefangen hält.
Der Shutdown war ein kollektiver Einschnitt, wir alle wurden gestoppt. Es waren Nullpunkte, in der Regel ohne Schicksalsschlag. Es waren Wochen, in denen man die „Was will ich?“-Frage wieder hören konnte. Horchen Sie mal in sich hinein: An was alles denken Sie beim Szenario eines erneuten Shutdowns?
Ob wir wirklich den Mut finden, etwas zu ändern, ist die nächste Frage (siehe unsere Titelgeschichte im neuen Heft 11/2020 ). Wir können uns vieles einreden, manches neu zu schätzen wissen, auch wiederentdecken. Wenn die Frage nach Veränderung aber nicht aufhört, in uns zu bohren, sollten wir ihr nachgehen.
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