
Harit Talwar ist jemand, der gern mal den Leuten die Hände schüttelt. Normalen Leuten. In seinem alten Job durfte er ab und an Preise überreichen, an glückliche Kunden. Als Chef der US-Kreditkartensparte beim Finanzdienstleister Discover Financial strahlte er dann neben Luftballons, einen riesigen Scheck unterm Arm, er drückte die Siegerin an sich, eine überwältigte Omi in Sandalen, die der Zufall ausgewählt hatte. Um ihn herum applaudierende Menschen in irgendeiner Autowerkstatt in Florida. So war sein alter Job.
Seit Mai ist Talwar bei Goldman Sachs. Die größte Investmentbank der Welt hat ihn abgeworben und zum Partner gemacht – ein Ritterschlag. Eigentlich dürfte Talwar jetzt nichts mehr mit den normalen Leuten zu tun haben. Doch mit dem 54-Jährigen sollen auch die Omis in Sandalen zu Goldman Sachs kommen, vielleicht auch die Luftballons, die Werkstätten, die großen Schecks.
Die Investmentbank, spezialisiert auf komplexe Wertpapiere und Firmentransaktionen, die mit Ausbruch der Finanzkrise Inbegriff der maßlosen Zockerei wurde, plant ihren Einstieg in das Geschäft mit Verbraucherkrediten. „Die Firma hat digitale Bankdienstleistungen für Verbraucher und kleine Unternehmen als Gebiet mit Chancen identifiziert“, schrieb Goldman-Chef Lloyd Blankfein im Mai in einer internen Mitteilung. Damit könnten auch gewöhnliche Bürger bald ein Darlehen über 15.000 oder 20.000 Dollar von Goldman Sachs bekommen, um die Küche zu renovieren oder einen neuen Rasenmäher zu kaufen.
Für das stolze, traditionsreiche Haus ist das ein großer Schritt. 146 Jahre lang hat es jeden Kontakt zum Kleinsparer und Normalverdiener vermieden, bediente stattdessen nur die Reichsten der Reichen, half Unternehmen bei internationalen Transaktionen und Übernahmen und handelte mit Wertpapieren, die niemand sonst verstand. Damit verdiente die Bank Milliarden. Und nun Kredite für Waschmaschinen?
Abwicklung in Eigenregie
Der Strategiewechsel passt zu einer Branche, die sich sieben Jahre nach dem Crash in einem gewaltigen Umbruch befindet. Fast im Monatstakt kündigt eine der global agierenden Großbanken eine neue Geschäftsidee, eine neue Strategie an. Galten sie Aufsehern und Politikern vor wenigen Jahren noch als übermächtig, als „too big to fail“, zu groß um zu scheitern und abgewickelt zu werden, erledigen sie dies nun selbst. Monat für Monat, Jahr für Jahr schrumpfen sie und wickeln sich ab.
In den USA und Europa strichen Institute allein 2013 und 2014 an die 160.000 Jobs. Die britische Großbank HSBC kündigte im Sommer an, das Geschäft mit Konsumenten in elf Ländern aufzugeben. Bis zu 50.000 Mitarbeiter will die Bank loswerden, die Bilanz soll um ein Viertel schrumpfen, vor allem im Investmentbanking. Es gebe „keine heiligen Kühe“, alles stehe auf dem Prüfstand, sagte HSBC-Chef Stuart Gulliver, als er die Pläne vorstellte.
Die in der Krise verstaatlichte Royal Bank of Scotland will sich gleich aus 25 von 38 Märkten zurückziehen. Auch die Schweizer UBS, die britische Großbank Barclays, der US-Finanzkonzern Citigroup und die französischen und deutschen Banken stoßen Geschäfte ab, streichen Jobs und orientieren sich neu. Die US-Großbanken Wells Fargo, J. P. Morgan, Bank of America und Goldman stehen zwar besser da – doch auch sie suchen nach neuen Geschäftsfeldern, da ihre Vormachtstellung vorbei ist.
Capital hat die Umbrüche in der Bankenwelt wiederholt beleuchet (siehe 09/2014) – die neue Wucht der Veränderung hat uns veranlasst, das Thema erneut aufzugreifen. Wir stellen Banken vor, die es geschafft haben, sich umzubauen und ein funktionierendes Geschäftsmodell zu haben. Zum Beispiel die ING-Diba, die als Direktbank zu einer effizienten Gewinnmaschine geworden ist.
Erlösquellen brechen weg
Erfolgreich ist in der Regel, wer sich auf wenige Geschäftsbereiche spezialisiert hat, wer schlanke Strukturen und einfache Produkte hat. Und wer frühzeitig die Kosten gesenkt hat. Die erfolgreichen Banken sind deswegen nicht unbedingt klein, manche sind sogar größer als vor der Krise. Aber sie haben das optimiert, was sie können, und ihre Strukturen vereinfacht – auf Überflüssiges haben sie verzichtet.
Die Gründe für die Krise der Kolosse sind vielfältig, sie haben nicht nur mit den Auswüchsen vor dem Crash 2008 zu tun. „Die Banken machen angesichts von Regulierung, Technologie und gesellschaftlichen Erwartungen nie da gewesene Veränderungen durch“, sagt Bill Michael, Bankenexperte bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG.
Schwerer als die vielen Skandale lastet auf den großen Instituten der weltweite Rückgang der Zinsen, der die klassische Marge im Kreditgeschäft aufzehrt. Auch der einst lukrative Eigenhandel scheidet als Erlösquelle aus. Die schärfere Regulierung nach dem Lehman-Crash, die härteren Eigenkapitalvorschriften für Kredite und den Handel mit Wertpapieren machen viele Geschäfte schlicht unrentabel. Anfangs wurden die neuen Regeln belächelt, doch inzwischen zeigt sich ihre Wirkung: etwa wenn einst stolze Bankchefs jetzt heilfroh alle drei Monate jedes Zehntelprozentchen vermelden, um das sich das Kapitalpolster ihrer Bank verbessert hat.
Hinzu kommen nicht enden wollende Strafzahlungen. Deutsche Bank, Goldman, Barclays, J. P. Morgan und HSBC müssen Milliardensummen für Strafen, Entschädigungen und Scharen von Anwälten und Beratern ausgeben, für ihre Versäumnisse, Fehlberatungen und faulen Deals der Vergangenheit. Nach einer Auswertung der Investmentbank Morgan Stanley waren es rund 260 Mrd. Dollar seit 2009. Die Rückstellungen fressen ganze Quartals- und Jahresgewinne auf.
Derweil sprießen überall neue Konkurrenten aus dem Boden: Kleine Fintechs und Internetgiganten wie Facebook und Apple steigen ins Finanzgeschäft ein, der Onlinebezahldienst Paypal bietet Kredite an, Unternehmensfinanzierungen gibt es inzwischen im Internet. Keiner der Angreifer will Universalbank spielen, sie besetzen gezielt Teile der Wertschöpfungskette.
Was bleibt, sind die gewaltigen Kosten, die gerade die großen Geldhäuser gar nicht so schnell drücken können, wie die Renditen fallen: für Personal, besonders im Investmentbanking, und für die wild gewucherten Strukturen, Prozesse und veralteten IT-Systeme, oft Resultat von Fusionen und Übernahmen – als Größe noch das Wichtigste war.
Ausgerechnet der neue Co-Chef der Deutschen Bank, John Cryan, räumte so offen wie kaum ein Bankmanager zuvor die Misere ein: „Wir haben zugelassen, zu ineffizient zu sein“, schrieb er an seinem ersten Arbeitstag Anfang Juli in einer E-Mail an Mitarbeiter. Prozesse und Technologien seien „mangelhaft“ und zu teuer. Das Geschäftsmodell der Bank sei „zu diversifiziert und zu komplex“, die Bank müsse „nicht alles für jeden sein“. Hinzu komme der Verlust an „Reputation durch Fälle von schwerwiegendem Fehlverhalten“ sowie „hohe Strafzahlungen“, die Kapital und Selbstvertrauen der Bank zerstört hätten. Die Zeiten, in denen die Bank auf eigene Rechnung mit Wertpapieren und Finanzinstrumenten spekulieren konnte, seien vorbei: „Diesen Luxus können wir uns nicht mehr leisten.“

Wenn Chefs zum Amtsantritt solche Nachrichten verschicken, wissen alle: Es gibt in der Firma nicht nur ein paar Probleme – es geht um die Existenz. Cryan meinte die Deutsche Bank, aber er lieferte eine schonungslose Analyse der gesamten europäischen Branche.
Experten der Beratungsgesellschaft Ernst & Young stellten vor wenigen Monaten eine Umfrage unter Managern von Europas Großbanken vor. Das Ergebnis war düster: Um wenigstens ihre Kapitalkosten wieder reinzuholen, müssten Europas Großbanken demnach ihre Kosten um ein Fünftel senken und zugleich ihre Umsätze um 15 Prozent steigern. Für deutsche Banken waren die Zahlen noch ehrgeiziger – „ein sehr unwahrscheinliches Szenario“, wie selbst Ernst & Young feststellte.
Drei Wege in die Zukunft
Um sich gegen den Niedergang zu stemmen, gibt es drei Möglichkeiten: Erstens, die Kolosse müssen kleiner werden, ihre Bilanzen reduzieren und altes Geschäft abstoßen. Genau das passiert gerade: Zwischen 2012 und Mitte 2015 reduzierte die Deutsche Bank ihre Bilanzsumme von gut 2200 Mrd. auf etwa 1700 Mrd. Euro. Ähnlich sieht es bei der Commerzbank aus, bei der UBS, bei Barclays und der Citigroup.
Zweitens müssen sie sparen und schlanker werden. Aber das ist mühsam und dauert, denn der größte Kostenblock einer Bank ist das Personal: Die Ausgaben für die Angestellten der Deutschen Bank etwa schwanken seit Jahren zwischen 12,5 und 13,5 Mrd. Euro, allen Sparbemühungen zum Trotz.
Und drittens, die Geldinstitute müssen sich auf die Geschäftsfelder konzentrieren, die noch am ehesten Gewinn versprechen. Jede Bank hat ihre eigenen Stärken, die eine im Geschäft mit Kleinkunden, die andere in der Vermögensverwaltung, in der Immobilienfinanzierung oder im Investmentbanking.
Genau damit aber tun sich die meisten Großbanken, die gewohnt waren, alles zu können, besonders schwer. Viele behaupten nur, sich auf die Stärken zu konzentrieren – und wurschteln stattdessen weiter.
Die HSBC etwa zieht sich zwar in etlichen Ländern aus dem Geschäft mit Konsumenten zurück, hält aber an allen Geschäftsbereichen grundsätzlich fest. Goldman Sachs will mit Großmüttern und ihren Waschmaschinen sogar neue erobern. Und die Deutsche Bank, der 2008 das Geschäft mit Privatkunden noch als solides Standbein erschien, will die Kleinsparer jetzt so schnell wie möglich wieder loswerden. Stattdessen sollen vermögende Kunden und das riskante Investmentbanking Gewinne bringen.
Ob globale Universalbanken in einigen Jahren überhaupt noch gebraucht werden, ist umstritten. In jedem Fall aber ist der Ansatz teuer und mühsam. Neben Sparprogrammen und Entlassungen gehören auch abrupte Strategiewechsel und Kehrtwenden zur Strukturkrise. Sie sind Ausdruck der Unsicherheit, die die Branche erfasst hat.
Am schnellsten und radikalsten reagierte die UBS. Sie hat ihr Investmentbanking weitgehend aufgegeben und setzt weltweit auf die Vermögensverwaltung wohlhabender Kunden. UBS-Aktien zählen seither zu den wenigen klaren Gewinnern der Branche.
Die Angst vor dem Abstieg
Die meisten anderen europäischen Großbanken dagegen hoffen, dass sie irgendwo schon wieder Gewinne auftun werden. Sie fürchten den Abstieg – und sind doch schon mittendrin.
Dabei müssen Rückzug und Konzentration gar nicht notwendigerweise bedeuten, dass Großbanken bedeutungslos werden. Eine globalisierte Wirtschaft und globale Unternehmen werden auch künftig global tätige Banken brauchen.
Die Banken, denen die Zukunft gehört, können sogar stärker und profitabler sein und Marktanteile gewinnen. Wahrscheinlich werden sie einfacher sein, ihre Produkte ebenso wie ihre Strukturen. Und sie werden leichter zu kontrollieren sein.