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Kommentar It’s the court, stupid!

Ganz Europa guckt auf Berlin und die Koalitionsverhandlungen. Dabei sind die Beratungen von acht Richtern in Karlsruhe für Europa nach wie vor viel spannender. Von Timo Pache
Anhörung im Juni: Mit der Urteilsverkündung lassen sich die Richter Zeit
Anhörung im Juni: Mit der Urteilsverkündung lassen sich die Richter Zeit
© dpa

Politik ist ein seltsames Geschäft. Keine Frage bewegt Europa und den Berliner Regierungsbetrieb in diesen Tagen mehr als die nach dem künftigen Kurs einer neuen Bundesregierung in der Europa- und Euro-Politik. Nichts geht mehr in Berlin und Brüssel seit der Bundestagswahl vor gut drei Wochen: Bankenunion, der künftige Abwicklungsplan für marode Banken, eventuelle weitere Hilfen für Griechenland – alle Themen liegen derzeit auf Eis. Auch klassische EU-Themen wie die neue Datenschutzrichtlinie kommen nicht voran. Zunächst müsse man abwarten, wie sich die neue Regierung in Berlin aufstellt, heißt es allenthalben.

Bei manchen Zögerern scheint es, als sei der Wunsch Vater des Gedankens. Denn für die Annahme, in einer neuen Regierung könnte die alte und wohl auch neue Kanzlerin Angela Merkel den europapolitischen Kurs komplett ändern, gibt es keinen einzigen sichtbaren Grund – egal, ob sie künftig mit der SPD oder mit den Grünen regiert. Beide Parteien sind längst abgerückt von früheren Ideen, allein größere Solidarität der Deutschen und die Einführung von Eurobonds könnten den Euro retten. Selbst wenn ihre Argumente stimmen, SPD und Grüne mussten spätestens am 22. September erkennen, dass es für eine massive Ausweitung der Euro-Hilfen in Deutschland derzeit keine breite Unterstützung gäbe.

Stattdessen haben die Wähler die Methode Merkel bestätigt: Abwarten, verhandeln, und Hilfen gibt es nur unter strengen Auflagen. (Sie haben aber auch allen Separationsträumen der Euro-Gegner eine klare Absage erteilt.) Ob diese Methode ökonomisch erfolgreich ist, kann man bezweifeln. Aber der wirtschaftliche Niedergang Spaniens oder Griechenlands ist immer noch weit weg und, wenn es gut läuft, hoffentlich bald gestoppt. Kurz: Es gibt auch für Sozialdemokraten und Grüne derzeit kaum Argumente, die die Forderung nach einem deutlichen Schwenk in der Europapolitik rechtfertigen würden. Die politische Klugheit rät ihnen sogar dringend davon ab.

Langes Verfahren

Timo Pache
Timo Pache
© Trevor Good

Im Umgang mit der Eurokrise wird sich also wenig bis gar nichts ändern, nur weil Merkel künftig mit der SPD oder mit den Grünen regieren wird. Bestenfalls wird das deutsche Krisenmanagement sogar ruhiger laufen, weil die Koalition ohne einige dringend auf Profil angewiesene Liberale auskommt.

Das eigentliche Risiko für den bisherigen Kurs in der Euro-Politik lauert nach wie vor einige hundert Kilometer südwestlich von Berlin und wird aktuell überhaupt nicht mehr beachtet. Berlin, Brüssel, die Europäische Zentralbank in Frankfurt und sicher auch so manche Regierung in Südeuropa warten immer noch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EZB und ihrem geplanten Ankaufprogramm für Staatsanleihen, OMT.

Seit über einem Jahr zieht sich das Verfahren nun schon hin, mehrfach wurde bereits der Zeitplan gestreckt. Zuletzt gab es im Juni eine zweitägige Anhörung vor dem Gericht in Karlsruhe, die die Befürworter des OMT mit einem mulmigen Gefühl verließen. Die Liste der Sachverständigen und die Nachfragen der Richter ließen in ihren Augen ein tiefes Misstrauen gegen die Pläne der EZB erkennen.

Damals hieß es, ein Urteil sei nach der Bundestagswahl zu erwarten. Gehört hat man seither aber nichts mehr aus Karlsruhe. Auch jetzt erklärt ein Gerichtssprecher lediglich, ein Termin für die Urteilsverkündung sei noch nicht absehbar.

Komplizierte Kompetenzfrage

Offenbar tun sich die Richter immer noch schwer mit der Materie – was man ihnen auch kaum verdenken kann. Die Frage, ob sich die EZB mit Anleihekäufen noch innerhalb ihres Mandats bewegt, ist schon schwierig genug. Die Frage, ob ein deutsches Verfassungsgericht diese Frage überhaupt beurteilen darf und wie sich das gegebenenfalls mit dem Grundgesetz begründen ließe, ist noch weit komplizierter. Es scheint, als hätten sich die Richter etwas zu viel vorgenommen. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Rechtsprechung.

Bislang tendierte das oberste Gericht dazu, die eigenen Kompetenzen in europäischen Angelegenheiten weit auszulegen. Weil es um den Schutz der Demokratie in Deutschland ging, fand diese Argumentation breite Zustimmung. Damit erlangten die Richter bei vielen Deutschen den Ruf, Karlsruhe sei das letzte Bollwerk gegen den Euro-Dirigismus aus Brüssel.

Doch was, wenn sich die Richter zu viel vorgenommen haben? Was, wenn es immer schwieriger wird, aus den Artikeln des Grundgesetzes die Legitimation für ein deutsches Veto gegen eine europäische Institution abzuleiten, die selbst wiederum nicht dem Grundgesetz untersteht? Schon in der mündlichen Anhörung wurde diese Frage ausführlich diskutiert, Finanzminister Wolfgang Schäuble – selbst stolzer Jurist – bestritt die Zuständigkeit des Gerichts rundweg.

Doch wahrscheinlich werden die Richter sehr umständlich und interpretationsanfällig versuchen, der EZB Grenzen zu setzen. Zum Beispiel, indem sie Regierung und Bundestag in Berlin oder auch die Bundesbank in Frankfurt gegen die EZB in Stellung bringt. Die neue Verunsicherung, die solch ein Urteil auslösen kann, würde all die Beruhigung der letzten sechs Monate wieder zunichtemachen.

Leider ist kaum zu erwarten, dass sich die Richter einmal in Bescheidenheit üben. Nicht zuletzt deshalb wirkt das bange Warten und Starren auf die Koalitionsverhandlungen in Berlin wie seltsam naives Wunschdenken.

Mehr zum Thema: Ruhe vor dem Sturm in der Eurozone, Die Mythen der Merkelmania und Keine Zeit zum Ausruhen, Kanzlerin

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