Mitten in den nordschwedischen Wäldern, rund 80 Kilometer südlich des Polarkreises, erstreckt sich über 270 Hektar Baufläche das modernste Stahlwerk Europas. Nichts erinnert hier an den Rost und Ruß einer typischen Hochofenlandschaft. Zwischen einem Gebäude mit blitzblanker Edelstahlfront und vielen Fabrikhallen ragt ein schwedenroter Turm in die Höhe: die Direktreduktionsanlage. Hier entsteht aus Erz und Wasserstoff Eisenschwamm, der zu grünem Stahl verarbeitet wird – ganz ohne Verwendung von Kohle.
Willkommen bei Stegra in der Nähe der Ortschaft Boden, wo sich der Traum von der ökologischen Wende in der Stahlindustrie erfüllt. 2026 startet dort die Produktion, nicht zuletzt mit deutscher Hilfe: Die Düsseldorfer SMS Group baut das Werk, die Dortmunder Thyssenkrupp-Tochter Nucera zieht den Elektrolyseur für die Gewinnung von Wasserstoff hoch, und der Düsseldorfer Versorger Uniper liefert den Strom aus Wind- und Wasserkraft, die in Schweden in großen Mengen und günstig verfügbar sind. Zunächst soll Stegra (früher: H2 Green Steel) pro Jahr 2,5 Millionen Tonnen Stahl produzieren, von 2030 an dann fünf Millionen Tonnen. Stegra-Chef Henrik Henriksson spricht von einer „neuen Ära“. Den Neubau eines Stahlwerks dieser Größe gab es in Europa seit Jahrzehnten nicht.
3000 Kilometer südlich von Boden träumt dagegen niemand von grünem Stahl. In Tarent, am Stiefelabsatz Italiens, breitet sich Europas größtes Stahlwerk aus – fünf Mal hätte die Stegra-Anlage darin Platz. Das Mailänder Wirtschaftsblatt „Il Sole 24 Ore“ nennt die Produktionsstätte des Unternehmens Acciaierie d’Italia „Schande Italiens“, die Konkurrenz spricht von einer „Dreckschleuder“. Aus dem Stahlwerk Taranto weht roter Roststaub über die Stadt, es vergiftet das Grundwasser und ist für ein Fünftel des gesamten CO₂-Ausstoßes des Landes verantwortlich. Nach einer Kette von Skandalen und missglückten Verkäufen gehört der Komplex wieder dem Staat – wie schon bei seinem Bau 1960. Eine Umstellung auf grünen Stahl? Unfinanzierbar, falls nicht ein Wunder geschieht.
Es kommt aufs Tempo an
Der Wechsel von Kohle auf grünen Strom als Energiequelle ist das ambitionierteste Projekt der europäischen Stahlindustrie seit Jahrzehnten. Noch nie stand die Branche so unter Druck wie jetzt: Schwache Nachfrage, die immer stärkere Konkurrenz aus aller Welt, Chinas Preisdumping und die Zölle in den USA treiben die Unternehmen immer tiefer in die roten Zahlen. Gleichzeitig sollen sie Milliarden Euro aus eigenen Mitteln aufbringen, um ihre Werke auf eine umweltfreundlichere Produktion umzustellen.