Boris Johnson hat in der Virus-Epidemie seine ganz persönlichen Schicksalswochen erlebt. Auf der Intensivstation des Londoner St. Thomas-Krankenhauses kämpfte der britische Premierminister gegen das Coronavirus um sein Leben. „Das britische Gesundheitswesen hat ohne Frage mein Leben gerettet“, sagte der sichtlich ergriffene Ministerpräsident nach seiner Entlassung am Osterwochenende per Videobotschaft, „ich möchte meinen persönlichen Dank an die absolut herausragenden Ärzte richten, die kritische Entscheidungen getroffen haben, für die ich ihnen für den Rest meines Lebens dankbar sein werde.“
Nicht nur für Johnson, für das ganze Land haben sich durch die Grenzerfahrungen in der Corona-Krise die Prioritäten verschoben. Monatelang war Großbritanniens größtes Problem der Brexit-Schlamassel. Nun ist es die Epidemie. Wenn eine Krankheit grassiert, gegen die es weder Medikamente noch Impfstoff gibt und Menschen sich fragen, ob sie die nächste Woche überleben, interessiert kaum noch, was bis zum Ende des Jahres passiert. Johnson hat das bei seinem ganz persönlichen Corona-Schock am eigenen Leib erfahren. Doch das heißt nicht, dass sich der Brexit von selbst erledigt hat. Er ist nur in den Hintergrund getreten. Und kehrt nun mit aller Macht auf die Agenda zurück.
Großbritannien steuert wieder mal auf die Klippe zu: Bis Ende des Jahres müssen sich London und Brüssel auf ein Freihandelsabkommen einigen. Die Corona-Krise führt mehr denn je vor Augen, wie selbstzerstörerisch dieser Drahtseilakt ist. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet in diesem Jahr mit einer globalen Rezession von 3 Prozent, in der Eurozone mit einem Wirtschaftseinbruch von 7,5 Prozent und in Großbritannien von 6,5 Prozent. Die Vorhersagen der britischen Haushaltsbehörde OBR sind sogar noch düsterer: Sie geht von einem Minus von bis zu 13 Prozent im Vereinigten Königreich aus.
Premierminister im „Fantasieland“
Mitten in dieser größten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte will Boris Johnson die Beziehungen zur EU, dem wichtigstem Handelspartner Großbritanniens, völlig neu verhandeln. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde auf die Idee kommen, ausgerechnet in einer Jahrhundertepidemie neue Hürden für den Handel zu errichten, wenn Lieferketten ohnehin zusammenbrechen. Niemand würde riskieren wollen, weitere Unsicherheit für Unternehmen zu erzeugen, wenn sie sowieso schon vor der Zukunft zittern. Doch genau das ist der Plan des Premierministers.
Zum Corona-Crash wird daher schon bald der Brexit-Schock kommen, selbst wenn sich Johnson mit Brüssel einigt. Was auch immer beide Seiten aushandeln, es wird eine zusätzliche Belastung der schwächelnden Wirtschaft bedeuten. Denn dieser Deal kann bestenfalls dem Freihandelsabkommen ähneln, das die EU mit Kanada unterhält, wird aber weniger Freizügigkeiten enthalten als der EU-Vertrag, der momentan noch den freien Fluss von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital zwischen Großbritannien und dem Festland garantiert. Er bedeutet in jedem Fall höhere Zölle, mehr Bürokratie, längere Wartezeiten an den Grenzen und letztlich weniger Wohlstand auf beiden Seiten.
Hinzu kommt enormer Zeitdruck: Der neue Grundlagenvertrag muss laut Austrittsabkommen schon bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein. Schon bevor die Lungenseuche in Europa ausbrach, war der Termin kaum zu halten. Laut „Guardian“ verspotten EU-Offizielle Johnsons Plan, bis Silvester einen Deal zu erzielen, inzwischen als „Fantasieland“. „Der Zeitplan bis Jahresende war schon vorher ambitioniert, jetzt wird er aus Sicht der Wirtschaft zunehmend unrealistisch“, warnte Ilja Nothnagel, Mitglied des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Neben den Auswirkungen des Coronavirus auch noch mit einem unkalkulierbaren Brexit umzugehen, könnte die betroffenen Unternehmen überfordern.“
Rare Videoschalten mit Madame No
EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier und sein britisches Gegenüber David Frost haben daher am Mittwoch vergangener Woche einen neuen Fahrplan für die Brexit-Gespräche vereinbart: Demnach soll es drei jeweils einwöchige Verhandlungsrunden geben - per Videokonferenz. Startdaten dafür waren der 20. April sowie der 11. Mai und der 1. Juni.
Doch ob die Zeit reicht, ist fraglich. Das Arbeitspensum gewaltig, viele Konflikte weiterhin ungelöst: von vertrackten Detailfragen bei den Fischereirechten über die Anerkennung von Zeugnissen und Abschlüssen bis zu technischen Hürden bei Finanzdienstleistungen.
Zudem übernimmt ab Juli turnusgemäß Deutschland bis Ende des Jahres die Präsidentschaft im Europäischen Rat. Überraschende Zugeständnisse an London sind daher nicht zu erwarten: Angela Merkel ist beim Brexit Johnsons größte Widersacherin. Schon seit Jahren fährt „Madame No“ eine harte Linie gegen Großbritannien.
Außerdem stellt sich die Frage, ob Boris Johnson und seine EU-Gegenspieler überhaupt die Kraft und den nötigen Fokus haben werden, mitten in der Virus-Krise die „Mutter aller Verhandlungen“ abzuschließen. Der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß warnte bereits, dass die Corona-Krise alles überlagern wird: „In den Mittelpunkt rücken fortan die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, Krisenmanagement, Exit und Wiederaufbau - womöglich die Aufrechterhaltung der EU- Integration an sich“, schreibt Clauß in einem vertraulichen Brief, aus dem der „Spiegel“ vor Ostern zitierte. Alle anderen Themen, die bislang wichtig waren, würden „zwangsläufig überlagert oder ganz in den Hintergrund treten“.
Hinzu kommt, dass der Rat der EU wegen der Corona-Krise auch praktisch nur sehr eingeschränkt handlungsfähig ist. Wegen der Abstandsregeln könnten statt 21 Sitzungssälen nur 5 genutzt werden - und die meisten seien nicht mit der nötigen Technik für Videokonferenzen ausgestattet, gab Clauß zu bedenken: „Das Ratssekretariat kann zeitgleich maximal eine Videokonferenz ausrichten und dies ohne geschützte Leitung.“ Der deutsche Chefdiplomat in Brüssel nennt die technischen Hürden einen „nicht zu unterschätzenden Flaschenhals“, der eine „radikale Priorisierung und Reduzierung der Themen, die wir behandeln können“ nötig mache.
Neustart im Unterhaus?
Die Lösung für das Problem liegt auf der Hand. Laut dem Austrittsabkommen könnte London die Übergangsphase, in der alles so bleibt, wie es ist, problemlos um bis zu zwei Jahre verlängern. Boris Johnson müsste nur bis Ende Juni offiziell in Brüssel darum bitten. Oder er könnte den Brexit auch gleich ganz absagen.
Es sieht allerdings nicht danach aus, als hätte die persönliche Corona-Erfahrung den Blick des britischen Premiers auf den Brexit verändert. Denn für eine Verlängerung der Frist müsste er mal wieder die Zustimmung des Unterhauses einholen. Dort hat er seit seinem Wahl-Triumph im Dezember zwar eine so gut wie unangreifbare Mehrheit. Aber er hat auch keinerlei Interesse, sich mitten in einer Staatskrise bei den Brexit-Hardlinern unbeliebt zu machen, etwa mit dem Eingeständnis, dass Großbritannien bei einer Verschiebung des EU-Austritts weitere ein oder zwei Jahre ins Brüsseler Budget einzahlen müsste. Eine Verlängerung hat Johnson daher bislang ausgeschlossen.
Ob er erneut den Gang ins Unterhaus antreten muss, liegt nicht nur an Johnson, sondern auch an seinem Gegenspieler Michel Barnier. Der hat sich ebenfalls mit dem Coronavirus infiziert und die Krankheit bereits wie Johnson erfolgreich überwunden. Weder London noch Brüssel haben jetzt also noch eine Ausrede, dem wichtigsten Thema während der Virus-Krise weiter keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Zuerst erschienen auf ntv.de