Mike Johnson, Partner der Renten- und Risikoberatungsfirma Hyman Robertson, telefonierte am 23. September mit einem Kunden und betrachtete beiläufig den Kurs britischer Staatsanleihen – bekannt als Gilts – auf seinem Computerbildschirm, als ein starker, plötzlicher Kursrückgang ihn stutzig machte.
Dies geschah genau zu dem Zeitpunkt, als die neue britische Regierung ihren unorthodoxen Plan vorstellte, zur Finanzierung von Steuersenkungen hohe Kredite aufzunehmen. Johnson erkannte sofort, dass dieser Schock eine anhaltende Verkaufswelle auslösen könnte, da die Anleger – darunter auch sein Kunde – der Forderung nach mehr Sicherheiten nachkamen. Er und sein Kunde verfassten eine E-Mail an die Bank of England (BOE), in der sie vor einem Zusammenbruch des Gilt-Marktes warnten.
In einer Zeit, in der die wirtschaftlichen Aussichten Großbritanniens bereits düster waren, versetzte der Plan der Regierung die Märkte in Angst und Schrecken, ließ das Pfund abstürzen und löste ein 48-stündiges Chaos aus, das die BOE dazu zwang, Anleihen in Milliardenhöhe aufzukaufen. Nach einem mehrtägigen öffentlichen Aufschrei beschloss die Regierung, eine ihrer umstrittensten Steuersenkungen zurückzunehmen.
Die Turbulenzen machten etwas deutlich, was viele zuvor nicht wahrhaben wollten: Der Markt für Staatsanleihen war weitaus anfälliger, als es den Anschein hatte.
LDI: Selbst Finanzprofis rätselten über diese Strategie
Wie bei anderen Zusammenbrüchen – denken Sie an MBS, CLO und CDO – kamen auch hier Finanztechniken und ein obskures Akronym zum Einsatz: LDI, oder Liability-Driven Investing. Noch nie davon gehört? Da sind Sie nicht allein. Viele erfahrene Finanzexperten haben Stunden damit verbracht, Erklärungen zu lesen, um sich einen Reim darauf zu machen.
LDI ist eine Strategie, die bei leistungsorientierten Pensionsplänen beliebt ist, die Rentnern unabhängig von Schwankungen der Finanzmärkte eine feste Auszahlung garantieren. Viele Pensionsfonds setzen Derivate ein, um ihr Vermögen und ihre Verbindlichkeiten im Gleichgewicht zu halten. In der Regel halten die Fonds Derivate, die an Wert gewinnen, wenn die Zinssätze sinken, und an Wert verlieren, wenn sie steigen. Gemäß den Bedingungen der Derivatverträge können die Fonds bei einem Wertverlust Nachschussforderungen stellen, d. h. sie müssen mehr Sicherheiten stellen.
Die lange Phase niedriger Zinsen seit der globalen Finanzkrise ließ diese Strategie als sicher erscheinen. Nach Angaben der britischen Investment Association nutzten britische Pensionsfonds im Jahr 2020 Derivate zur Absicherung von Verbindlichkeiten in Höhe von 1,5 Billionen Pfund (1,7 Billionen Dollar), mehr als dreimal so viel wie im Jahr 2010.
Bis zum 26. September waren die Preise für langfristige Staatsanleihen eingebrochen. Die Pensionsfonds hatten Schwierigkeiten mit der Beschaffung von Barmittel, um Nachschussforderungen nachzukommen. Daher begannen sie, Staatsanleihen zu verkaufen.
Die Rendite 30-jähriger inflationsgeschützter Anleihen, die von Fonds wegen ihrer langen Laufzeit und ihres Schutzes vor Preissteigerungen bevorzugt werden, stieg um 68 Basispunkte (die Renditen steigen, wenn die Preise fallen). Am 27. September schnellte sie um 76 Punkte in die Höhe – ein Rekordanstieg an einem Tag.
Fonds- und Rentenmanager gerieten in einen Teufelskreis: Sie mussten zusätzliche Sicherheiten stellen, weil die Kurse einbrachen. Und um Barmittel zu beschaffen, verkauften sie Anleihen, wodurch die Kurse weiter fielen und sie gezwungen waren, weitere Sicherheiten zu stellen. Da die Preise so schnell fielen, wurde das Geld sofort verlangt und nicht erst nach sechs bis zehn Tagen, wie sonst üblich.
Das Ergebnis war, dass das ganze System einfach zusammenbrach, wie Beteiligte berichten. „Ich beschäftige mich seit 47 Jahren mit Staatsanleihen, und man denkt, man hätte schon alles gesehen, aber diese Woche hat mich eines Besseren belehrt“, sagt George Whitehead, Spezialist für Anleiheverkäufe bei Astor Ridge.
Blackrock, Schroders und andere betroffen
Im Mittelpunkt des Dramas standen einige der größten Vermögensverwalter des Landes, darunter Blackrock, Legal & General Group und Schroders. Einige Manager, die in die Falle getappt waren, sagten, sie hätten erst am Nachmittag des 27. September verstanden, dass es die Fonds selbst waren, die die Abwärtsspirale in Gang setzten – und dass nur ein Eingreifen den selbstzerstörerischen Kurs stoppen könnte.
Fondsmanager und Banken hatten bereits begonnen, die BOE zum Eingreifen zu drängen und vor einem systemischen Zusammenbruch zu warnen. Ein Investmentmanager sagte, die politischen Entscheidungsträger seien sich dieser Risiken sehr wohl bewusst, und es bestehe auch die Gefahr, dass der Ausverkauf auf andere Anlageklassen übergreifen würde.
Am Morgen des 28. September schickte Blackrock eine E-Mail an seine LDI-Kunden, in der ihnen mitgeteilt wurde, dass der Vermögensverwalter mehr Geschäfte rückgängig machen und Vermögenswerte in Barmittel umschichten würde, anstatt zusätzliche Sicherheiten für Nachschussforderungen zu verlangen.
Nach Angaben von Personen, die mit der Angelegenheit vertraut sind, war Blackrock nicht der einzige Vermögensverwalter, der so handelte. Schließlich kündigte die BOE um elf Uhr an, dass sie sofort so viele langfristige Staatsanleihen wie nötig kaufen würde, um den Markt zu stabilisieren. Erfolgreich: Die Blutung stoppte. Die 30-jährigen britischen Anleihen verzeichneten ihren bisher größten Anstieg.
Beinahe-Crash mit langfristigen Auswirkungen
Der Beinahe-Zusammenbruch des Gilt-Marktes wird langfristige Auswirkungen haben. Er hat die Illiquidität des Marktes offengelegt und wird wahrscheinlich zu politischen Veränderungen führen.
In den letzten zehn Jahren haben Regulierung und Politik Pensionsfonds dazu gedrängt, verstärkt in Anleihen zu investieren, da sie als sichere Anlagen gelten, die das Portfoliorisiko verringern. Pensionsfonds sind einer der Hauptkäufer von britischen Staatsanleihen. Und da die BOE ihr Programm zum Ankauf von Staatsanleihen, das dazu beitragen soll, die Zinsen niedrig zu halten, noch in diesem Monat beenden wird, befürchten die Marktteilnehmer bereits eine weitere Krise.
Einige fordern Regeln, um die Anfälligkeit der LDI-Fonds für Zinserhöhungen zu verringern. „Dies ist kein Markt, den man den Betreibern zurückgeben und sich einfach zurückziehen kann“, sagt Marino Valensise, Chief Investment Officer bei Cardano, das Portfolios und LDI-Strategien für Pensionsfonds verwaltet. „Dies ist ein kleiner Markt mit vielen Leuten, die das Gleiche zur gleichen Zeit tun.“
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