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Kolumne Gegen wen wählen Sie bei der Europawahl?

Eine einzelne Europaflagge hängt in München aus einem Wohnungsfenster
Eine einzelne Europaflagge hängt in München aus einem Wohnungsfenster
© dpa
Die Europawahl droht wieder, zu einer Protestabstimmung zu werden. Viele Menschen machen ihr Kreuzchen, weil sie ihrem Ärger Ausdruck verleihen wollen. Für Lars Vollmer geht das am eigentlichen Problem vorbei

Eine „Antihaltung“ – diese sagt die Bertelsmann Stiftung bei vielen Europäern für die anstehende Europawahl voraus. Eine Mehrheit habe vor, gegen eine bestimmte Partei zu stimmen statt für eine, so die Analyse. Denkzettel für die Parteien bestimmen die Wähleragenda.

Meine erste Reaktion darauf war: Geht’s noch?!

Meine zweite Reaktion, nachdem ich mich gezügelt habe, ist: Liebe Wählerinnen und Wähler, die Parteien können doch nichts dafür.

Wen machen wir einen Kopf kürzer?

Wenn Sie oder jemand in Ihrem Bekanntenkreis vorhat, gegen eine Partei zu wählen, dann haben nicht die anderen Parteien versagt. Auch nicht einzelne Parteivorsitzende oder Politiker. Stattdessen haben wir uns lediglich das Versagen unseres politischen Systems vorgeführt.

Zu spüren bekommen allerdings immer nur Einzelpersonen die Häme der Europäer. Da soll dem CSU-Politiker Manfred Weber ein Denkzettel verpasst werden oder der tschechische EU-Abgeordnete Jan Zahradil eine Lektion lernen. Die sollen spüren, dass sie nichts taugen! So oder so ähnlich lautet die Argumentationsgrundlage am Stammtisch.

Kommen die Argumente Ihnen schon so bekannt vor wie mir? Ja, genau: In Unternehmen führen wir seit Jahrzehnten die gleiche Debatte: Welcher Manager, welcher CEO ist schuld, dass die Firma gerade den Bach runtergeht? Wem verpassen wir einen Denkzettel, wen machen wir einen Kopf kürzer? Die Häme gegen einzelne Player nimmt kein Ende.

Das Systemversagen aber auch nicht. Wo liegt also der eigentliche Fehler?

Wer kann es besser?

Die Krux liegt – in der Politik genauso wie in der Wirtschaft – im paternalistischen, hierarchischen System. Und zwar deshalb, weil es auf zentrale Steuerung und auf die kausale Abfolge von Ursache und Wirkung setzt. Aber: Die Realität verhält sich nicht geordnet, lässt sich nicht steuern und verfolgt schon gar keine Kausalitäten.

Sie verhält sich eher wie eine Kreuzung in einer ostasiatischen Großstadt. Die Fußgänger, Mopeds, Rikschas, Fahrräder, Lastenräder, Kleinwagen und Laster strömen dort aus fünf oder sechs Richtungen auf die Kreuzung unter Missachtung jeglicher Verkehrsregeln. Sie drosseln einfach das Tempo und fahren so schnell wie möglich und so langsam wie nötig, um anderen Verkehrsteilnehmern ausweichen zu können. Jedes einzelne Vehikel sucht sich seinen Weg und insgesamt entsteht ein riesiges Kuddelmuddel, das aber fließt und sich kontinuierlich bewegt. Es gibt keinen Stau bis zum Stillstand. Die Verkehrsteilnehmer kommen auf wunderbare Weise unfallfrei auf der anderen Seite der Kreuzung wieder heraus.

Nun stellen Sie sich einen Schutzmann aus den 50er-Jahren vor und stellen Sie ihn in Uniform und mit weißen Handschuhen auf sein Podestchen mitten auf die ostasiatische Kreuzung: Er winkt und gestikuliert, trillert hilflos auf seinem Pfeifchen und versucht, das Chaos zu regulieren – und die ganze Welt ignoriert ihn. Denn sein Einfluss ist gleich null. Höchstens bringt er ein paar Mopedfahrer durcheinander, weil er im Weg steht, oder er verursacht einen Unfall, indem er einen Fahrradfahrer anhält.

In allen heutigen Politik- und Wirtschaftsfeldern gibt es so viele Einflussfaktoren, die niemand unter Kontrolle haben kann – schon gar nicht eine einzige europäische Partei oder ein einzelner Parteivorstand.

Wir lösen das Problem deshalb nicht, indem wir fragen: Wer könnte innerhalb des Systems besser regieren?

Wer hat sich verirrt?

Solange unsere Debatten sich um die Frage drehen, wer im EU-Parlament auf welchem Stuhl sitzen sollte oder an wessen Stuhlbein wir sägen müssten oder wem wir mit dem Wahlzettel-Stuhl eins überziehen wollen – so lange führen wir uns selbst in die Irre.

Denn in Politik und Unternehmen müssten wir dringend die Frage nach dem ‚Wer’ loslassen und stattdessen das Regieren und Steuern als solches infrage stellen.

Meine Frage ist daher: Haben wir das richtige System, um die Probleme von heute zu lösen?

Diese Diskussion ist bei vielen noch verpönt. Sie trauen sich nicht, auf sie einzuschwenken und sich ihr zu stellen. Aber gerade diese Diskussion ist die eigentliche, zentrale Debatte, der wir uns stellen müssen!

Also: Für wen wählen Sie?

Wenn wir in der EU und in Deutschlands Unternehmen nicht endlich eine Systemdebatte führen, dann fummeln und doktern wir weiter an Symptomen herum. Dann suchen wir länger falsche Schuldige und beruhigen uns mit dem hämischen Fingerzeig auf einzelne Player. Während wir uns weiter voneinander entfernen und uns entfreunden – bis wir uns irgendwann die Köpfe einschlagen.

Allerdings sollten wir diese Debatte dort führen, wo sie angebracht ist. Die Europawahl als Podium zu missbrauchen – das finde ich schlichtweg gefährlich. Weil Sie immer für jemanden wählen, nie gegen jemanden. Und weil die Einzelnen ohnehin nicht schuld sind.

Wenn Sie die EU, Ihr Unternehmen und unsere Gesellschaft erhalten wollen, dann führen Sie eine Debatte über das System. Denn nicht der Erhalt des Systems sichert den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sondern die Debatte über das System wird den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sichern. Und diese Debatte können wir bei der Europawahl nicht führen.

Ich jedenfalls werde mein Kreuz am 26. Mai nicht aus Protest heraus setzen. Sondern aus dem Willen heraus, wie ich die EU gerne hätte.

Lars Vollmer
© André Bakker

Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem neuen Buch „Gebt eure Stimme nicht ab! – Warum unser Land unregierbar geworden ist“ bietet er einen neuen konstruktiven Blick auf die Krise von Politik und Gesellschaft.

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