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Energiekrise „Die Atomkraft rettet uns nicht vorm Frieren“

Das Atomkraftwerk Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg
Das Atomkraftwerk Neckarwestheim II in Baden-Württemberg ist einer der letzten drei Reaktoren in Deutschland, die noch bis Ende 2022 laufen
© IMAGO / Arnulf Hettrich
In Deutschland tobt die Debatte über längere Laufzeiten der drei restlichen Atomkraftwerke. Für Wärme im Winter und billigere Energiepreise würden sie nicht sorgen, sagt Umweltökonom Andreas Löschel. Statt auf die Hochrisikotechnologie zu setzen, müsse Deutschland vor allem Gas sparen

Capital: Herr Löschel, wie wichtig ist Atomkraft für die Energieversorgung in Deutschland?

ANDREAS LÖSCHEL: Die drei verbleibenden Kernkraftwerke haben eine Leistung von gut vier Gigawatt. Das entspricht etwa sechs Prozent der gesamten Stromerzeugung in Deutschland. Kernkraft macht heute also nur noch einen kleinen Anteil an der Energieversorgung aus. Früher war sie ein sehr wichtiger Baustein, vor 15 Jahren lieferten sie fünfmal so viel Strom. Heute ist sie nicht mehr von überragender Bedeutung.

Andreas Löschel ist Professor für Umwelt- und Ressourcenökonomik sowie Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum. Der Umweltökonom berät die Bundesregierung in Fragen zur Energiewende, Nachhaltigkeit und Transformation der Wirtschaft.

Können die AKW helfen, um Engpässe zu verhindern?

Abgesehen von kurzen Wartungen laufen die Atomkraftwerke praktisch durch und liefern konstant Energie. AKWs helfen also durch ihre Stromerzeugung, die schwierige Situation auf den Strommärkten abzuschwächen. Die Strompreise explodieren gerade, diese Woche kostete die Kilowattstunde fast konstant mehr als 30 Cent, das ist Wahnsinn. Zusätzlich gibt es temporäre Knappheiten, die die Preise auf fast 70 Cent hochschießen lassen. Da sind dann flexible Gas- und Kohelkraftwerke gefragt. Sie können solche Preisspitzen abfedern. Sie werden zugeschaltet, wenn es eng wird, und wieder runtergefahren, wenn sich die Lage entspannt. Diese Funktion können Kernkraftwerke kaum übernehmen.

Warum?

Weil es zu kostspielig wäre. Das An- und Abschalten der Kernkraftwerke ist sehr teuer, der Prozess dauert Stunden, jeder veränderte Zyklus belastet das Material. Sie sind sehr viel weniger flexibel als etwa Gaskraftwerke. Die werden schon jetzt häufig genutzt, insbesondere abends, wenn wenig Solar- oder Windenergie ins Netz eingespeist wird.

Also würden uns die drei Meiler im Winter nicht vorm Frieren retten, selbst wenn sie länger liefen?

Wir haben gerade eine echte Krisensituation am Strommarkt. Es fehlt Strom in Europa. Das liegt insbesondere daran, dass in Frankreich mehr als die Hälfte der 56 Kernkraftwerke wegen Schäden oder Revisionen stillsteht oder auch, weil das Kühlwasser der Flüsse aufgrund der großen Hitze zu warm wird. Deutschland exportiert deshalb massiv Strom nach Frankreich. Derzeit ist also alles gut, was Strom erzeugt, auch die drei deutschen Kernkraftwerke. Ob sich die Situation im Winter entspannt, will die Bundesregierung mit einem erneuten Stresstest herausfinden. Die Atomkraft rettet uns aber nicht vorm Frieren. Viele Gaskraftwerke produzieren neben Strom auch Wärme, die Kernkraftwerke tun das nicht. Wir könnten durch sie höchstens das Gas einsparen, das sonst für die Stromproduktion verbraucht wird. Viel wäre das wahrscheinlich aber nicht. Kohlekraftwerke würden hier, auch vom Umfang her, mehr helfen.

Wie lange halten die alten Brennstäbe in den Kernkraftwerken?

Der Brennstoff dürfte so ausgelegt sein, dass er bis zum Ende der Laufzeiten im Dezember hält. Wenn man die Laufzeiten für wenige Monate verlängern würde, ginge das nur im sogenannten Streckbetrieb. Die Kraftwerke laufen dann nicht auf voller Leistung, sondern gedrosselt. Um über den Winter zu kommen, bringt das wenig. Es wird ja nicht mehr Strom produziert, sondern nur über einen längeren Zeitraum. Und damit dürfte auch in Summe praktisch kein Gas eingespart werden. Würden die AKW-Laufzeiten generell verlängert, müssten die Betreiber wohl nicht nur neue Brennelemente beschaffen, sondern es wären auch Sicherheitsüberprüfungen fällig und Haftungsfragen müssten geklärt werden. Dann würden aber wahrscheinlich auch die Kraftwerke erst mal still stehen. Und dann sind wir schon im nächsten Winter – wenn es überhaupt so schnell geht.

Heißt auch, dass Strom erst mal nicht billiger würde?

Atomkraft würde gegen die extrem hohen Preise helfen. Aber ein Weiterbetrieb würde die Situation nicht grundsätzlich verändern, Atomkraft wäre kein Game Changer. Die laufen ja die ganze Zeit und wir haben trotzdem sehr hohe Preise. Die Strompreise werden eher durch die hohen Gaspreise beeinflusst. Größere Hebel sehe ich hier beim raschen Ausbau der erneuerbaren Energien und der Nutzung von Kohlekraftwerken, die den Markt verlassen müssten oder in Reserve gehalten werden. Einen großen Preisrückgang darf man sich durch eine Laufzeitverlängerung nicht versprechen.

Ist es ökonomisch sinnvoll, die Laufzeiten zu verlängern?

Für Frankreich wissen wir, dass eine Verlängerung der Laufzeit um zehn Jahre ungefähr 100 Milliarden Euro kosten würde. Ein längerer Betrieb könnte also auch hier in Deutschland mit erheblichen Kosten verbunden sein. Das wird man mit einrechnen müssen. Die Betreiber wissen das und möchten auch nicht verlängern. Sie haben alle möglichen Argumente schon vorgebracht: Probleme bei der Beschaffung von Brennelementen, der Personalplanung und vor allem Sicherheitsfragen.

Alle zehn Jahre muss ein Atomkraftwerk geprüft werden. Diese Sicherheitsprüfung haben die Betreiber 2019 aber nicht mehr durchgeführt, weil die Meiler Ende 2022 ja eh vom Netz gehen sollen.

Ja, das ist eine der ungeklärten Fragen: Gäbe es überhaupt eine Betriebserlaubnis? Eine vollständige Sicherheitsprüfung ist umfangreich und dauert. Wahrscheinlich wäre man also in einer Grauzone. Und wer sichert das dann ab? Wahrscheinlich müsste sich der Staat sehr stark verpflichten. Eine Laufzeitverlängerung wäre nicht zum Nulltarif zu haben. Da hat noch keiner eine Rechnung präsentiert.

Wie viel kostet uns die Atomkraft?

Man muss stark unterscheiden: Die Gesamtkosten inklusive Bau, Betrieb und Entsorgung sind sehr hoch, das macht die Atomkraft insgesamt sehr teuer. Wir sehen das gerade bei den Bauprojekten in Finnland, Frankreich oder Großbritannien. Deswegen will in Deutschland schon lange niemand mehr ein Kernkraftwerk bauen, weil sich das niemals rechnen kann. Der reine Betrieb dagegen ist günstig: Legt man die variablen Kosten etwa für die Brennstäbe um, kommt ein Kernkraftwerk wohl auf unter 2 Cent pro Kilowattstunde. Deshalb laufen die Kraftwerke ja praktisch immer. Wenn man sie länger laufen lassen würde, stimmt diese Rechnung aber schon nicht mehr. Dann müsste man ja auch die Instandhaltungskosten berücksichtigen, die mit dem Alter stark ansteigen. Und die Frage der Endlagerkosten wird leider komplett weggeschoben. Wir haben ja noch überhaupt kein Endlager, die Einlagerung soll im Jahr 2050 beginnen. Eine Laufzeitverlängerung bei den drei verbleibenden Kraftwerken würde die Menge an hochradioaktivem Atommüll wohl nicht stark verändern. Aber ganz ausgeblendet werden kann dieser Aspekt auch nicht.

Kann der wegfallende AKW-Strom ab 2023 ersetzt werden?

Ja, der könnte ersetzt werden, unter anderem durch mehr Kohlekraftwerke. Wir haben etliche Kraftwerke in der Reserve, die wieder an den Markt gebracht werden. Auch Stilllegungen von Kraftwerken sollten überdacht werden, genauso wie mögliche Reaktivierungen. In Summe dürfte das drei Mal so viel Leistung wie die verbliebenen Kernkraftwerke sichern. Das müsste die Bundesregierung aber jetzt rasch angehen. Für den Ausbau der erneuerbaren Energien, den langfristig zentralen Erfolgsfaktor, wurde gerade viel angeschoben. Da wird sich aber erst zeigen, ob die ehrgeizigen Ziele tatsächlich erfüllt werden.

Was sagen Sie als Wissenschaftler – ist Atomkraft ein notwendiges Übel zum Überbrücken oder sollten wir die Finger davon lassen?

Meiner Meinung nach wird gerade viel zu viel Aufmerksamkeit auf die Diskussion über die Kernenergie verwendet. Was wir jetzt brauchen, wäre eine massive Senkung der Gasnachfrage. Das ist von zentraler Bedeutung. Wenn klar wäre, dass die Kosten für eine Laufzeitverlängerung – und ich meine da auch die politischen Kosten – im Vergleich zum Nutzen klein sind, dann könnte man diese Diskussion führen. Aber das sehe ich gerade überhaupt nicht. Wir sollten unsere Energie darauf verwenden, Gas einzusparen.

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