Ana Palacio war spanische Außenministerin und Vizepräsidentin der Weltbank. Derzeit ist sie Mitglied des spanischen Staatsrats.
Während die Aufmerksamkeit der Welt von den dramatischen Ereignissen im Nahen Osten beansprucht wird, geraten die zahlreichen Herausforderungen, mit denen Israel konfrontiert ist, weitgehend ins Hintertreffen. Tatsächlich steckt Israel in einer der gefährlichsten Phasen seit seinem Bestehen. Nicht nur seit langem bestehende Probleme wie die Bedrohung durch einen nuklear bewaffneten Iran bleiben ungelöst; alle Nachbarländer Israels befinden sich inzwischen in Aufruhr oder steuern auf einen Umbruch zu. Und obwohl die Friedensverhandlungen mit Palästina nach US- Vermittlungsbemühungen wieder aufgenommen worden sind, werden sie wohl am Ende scheitern.
Eine vielversprechende Entwicklung gibt es jedoch: Die Europäische Union hat schriftliche Richtlinien erlassen, die die Zusammenarbeit mit im Westjordanland und Ostjerusalem ansässigen israelischen Firmen verbieten und damit ungewohnt Rückgrat bewiesen. Dieser mutige Schritt könnte der Vorbote eines grundlegenden Wandels der Rolle der EU dabei sein, eine langersehnte Beilegung des Konflikts zwischen Israel und Palästina herbeizuführen.
Dazu kann es nicht früh genug kommen, insbesondere im Hinblick auf das beispiellose Chaos an den Grenzen Israels. In Ägypten hat das angespannte, polarisierte Umfeld nach dem Sturz von Präsident Mohamed Mursi durch das Militär die Möglichkeit eines Bürgerkrieges real werden lassen. Obwohl Israel anfänglich besorgt über eine islamistische Regierung jenseits seiner Grenze zum Sinai war, wurde der Nutzen der Muslimbruderschaft – ihre Möglichkeit die Hamas als dominierende politische Kraft in Gaza zu beeinflussen – schnell offensichtlich. Der Charakter und die Haltung des neuen Militärregimes in Ägypten müssen sich erst noch zeigen.
Unterdessen ist der syrische Bürgerkrieg auf die israelischen Golanhöhen übergeschwappt. Der Einsatz chemischer Waffen und die Möglichkeit einer militärischen Intervention durch den Westen drohen Israel direkt in den Konflikt zu involvieren. Durch die jüngste Welle religiös motivierter Gewalttaten wird deutlich, dass auch der Libanon in den Sog der Krise in Syrien geraten ist, die auch Jordanien zu destabilisieren droht, das unter den Belastungen durch die Aufnahme von mehr als 500.000 syrischen Flüchtlingen ächzt.
Inmitten dieser äußerst unsicheren Lage hat sich US-Außenminister John Kerry um eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina bemüht. Drei potenzielle Ansätze sind diskutiert worden: Gespräche ohne Vorbedingungen, Gespräche im Anschluss an einen Siedlungsstopp und Gespräche im Anschluss an die Freilassung palästinensischer Häftlinge.
Schließlich hat unerwartet eine modifizierte Version der dritten Option – derzufolge 104 palästinensische Gefangene im Verlauf der Verhandlungen schrittweise freigelassen werden – den Weg für die Wiederaufnahme der Gespräche freigemacht. Trotz ihres offenkundigen Erfolgs hat diese Übereinkunft der Legitimität des Friedensprozesses einen schweren Schlag versetzt.
Die erste Gruppe von 26 Häftlingen – die allesamt vor israelische Gerichte gestellt und für ihre Beteiligung an der Ermordung von Israelis verurteilt worden waren – ist im Juli, vor der zweiten Verhandlungsrunde, aus der Haft entlassen worden. Das Problem ist, dass viele ihrer Opfer keine Militärangehörigen oder Regierungsvertreter waren, sondern Zivilisten, was in der israelischen Bevölkerung Empörung ausgelöst hat. Die Palästinenserbehörde hat dennoch ihre Freilassung gefordert, die israelische Regierung ist dem nachgekommen und die USA haben die Umsetzung unterstützt.
Indem die USA einen Tausch von Frieden gegen Gerechtigkeit befürworteten, anstatt auf die politisch schwierigere Option eines Siedlungsstopps oder die Aufhebung von Vorbedingungen zu bestehen, haben sie dem Friedensprozess Rechtmäßigkeit genommen. Außerdem untergräbt dieser Ansatz die Glaubwürdigkeit der Rechtsstaatlichkeit in Israel. Den Worten des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zufolge „kollidiert die Vereinbarung mit der einzigartigen Bedeutung von Gerechtigkeit“.
Diese Kollision ist besonders bitter, weil die Häftlinge nicht zugunsten einer endgültigen Einigung freigelassen werden. Die Freilassung ermöglicht lediglich den Beginn eines Verhandlungsprozesses, für den es offenkundig auf beiden Seiten an Engagement fehlt. Wenige Tage vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde hat Israel Baupläne für 1200 Wohnungen im Westjordanland und Ostjerusalem verkündet. Das lässt darauf schließen, dass die Freilassung der Häftlinge zwar zu einer auf kurze Sicht getroffenen Vereinbarung führen kann, dass sie aber nicht von der echten Bereitschaft getragen wird, die Art von vertrauensbasierten Übereinkommen zu entwickeln, die die Voraussetzung für dauerhaften Frieden sind.
Vor diesem Hintergrund ist die unerwartete Haltung der EU bemerkenswert, nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch im Hinblick auf ihre praktische und symbolische Tragweite. In allen künftigen Übereinkommen mit der EU oder einem ihrer Mitgliedsländer wird die israelische Regierung ausdrücklich anerkennen müssen, dass Territorien jenseits der vor 1967 geltenden Grenzführung nicht zu Israel gehören.
Netanjahu fühlt sich provoziert
Obwohl mit den Richtlinien die gängige Praxis der EU lediglich formalisiert wurde, kritisierte Netanjahu unmittelbar, dass sie im Zuge der Verhandlungen den „Frieden untergraben“ und „die palästinsischen Postitionen verhärten“ würde. Diese heftige Reaktion spiegelt die immense Bedeutung der Beziehungen der EU zu Israel wider und schwächt die seit langem vertretene Annahme, dass die USA der einzige externe Akteur seien, der die israelische Politik beeinflussen kann. In Anbetracht der soliden Beziehung zwischen der EU und Israel – untermauert durch ihre Rolle als größter Handelspartner Israels, auf den rund 26 Prozent aller israelischen Exporte und 34 Prozent seiner Importe entfallen – kann die Europäische Union wirksame Anreize entwickeln, die für den Impuls sorgen können, der für das Gelingen des Friedensprozesses notwendig ist.
Die einfachste Möglichkeit wäre eine an Bedingungen geknüpfte Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs im Rahmen des bestehenden Assoziationsabkommens zwischen der EU und Israel. Doch das problematische strategische Umfeld und die vorangegangenen gescheiterten Verhandlungen verlangen nach einem kühneren Ansatz: Die EU sollte die Initiative ergreifen und ihre Partner im Europäischen Wirtschaftsraum überzeugen Israel die Mitgliedschaft anzubieten − unter der Voraussetzung, dass ein Friedensabkommen geschlossen wurde. Abgesehen von einer Vertiefung des EU-Binnenmarktes würde ein solcher Schritt als starkes Symbol für die Bedeutung und das Potenzial der Beziehungen zwischen der EU und Israel dienen und den Weg für eine künftige weitere Integration ebnen.
Europa hat eine historische Chance dazu beizutragen, einen der langwierigsten und offenbar hartnäckigsten Konflikte weltweit beizulegen. Für die EU bietet sich damit zugleich die Gelegenheit, sich endlich als einflussreiche Macht in der Weltpolitik zu behaupten.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow
Copyright: Project Syndicate, 2013. www.project-syndicate.org
Mehr zum Thema: Kerrys vertracktes Angebot und Hoffnung im Chaos des Nahen Ostens
Fotos: © Getty Images; Project Syndicate