Es gibt unter den Jüngern des Elon Musk eine beinahe beispiellos ausgeprägte Bereitschaft, jeder noch so erratischen unternehmerischen Entscheidung ihres Idols einen tieferen Sinn beizumessen. Ein wirtschaftlich darbendes soziales Netzwerk für 40 Mrd. Dollar kaufen? Er wird schon wissen, was er tut. Den Großteil der Belegschaft feuern, die Moderation von Inhalten einstellen, ein Leselimit einführen? Es gibt bestimmt einen durchdachten Plan dahinter, den wir Normalsterbliche nur nicht verstehen können. „Von außen können wir das doch gar nicht beurteilen“, bekundete jüngst auch Tech-Investor Florian Leibert im Capital-Interview. Über Tesla und SpaceX habe man anfangs auch gelacht, am Ende habe Musk recht behalten. Und wenn es „in einer agilen Tech-Firma einen Führungswechsel gibt, dann wird es immer rumpeln“.
Und so wird auch Musks jüngste radikale Entscheidung, den bisherigen Markennamen des sozialen Netzwerks Twitter einfach so aufzugeben, derart wohlwollend interpretiert von jenen, die weiterhin daran glauben, Musk spiele vierdimensionales Schach. Der neue Name X, so geht diese Lesart, wird die neue, übergroße Marke jener Super-App, deren Vision Musk schon lange verfolgt und in die er das alte Twitter verwandeln will. Dass es dafür etwas „rumpelt“ – geschenkt.
Markenexperten schlagen dennoch die Hände über dem Kopf zusammen. Twitter ist eine der bekanntesten Marken der Welt, nicht nur unter Nutzern des Dienstes. Sie hat Eingang in Umgangssprache und selbst offizielle Wörterbücher gefunden – mehr kann eine Marke eigentlich nicht erreichen. Und obwohl es auf dem Netzwerk häufig ruppig zugeht, besitzt die Marke Twitter und die dazugehörige Bildmarke, das hellblaue Vögelchen, für viele eine warme, angenehme Ausstrahlung. Ganz anders das düstere X – es passt eher zu der von Musk sonst favorisierten „Mad Max“-Ästhetik, zu Cybertrucks und der dystopischen Vorstellung, wir müssten unsere Zivilisation auf den Mars retten.
Musk hat sich politisch radikalisiert
Dass der Buchstabe X für Musk eine besonderen Reiz ausübt, ist bekannt – schon Ende der 1990er-Jahre gründete er ein Start-up unter dem entsprechenden Namen, das später in Paypal aufging. Er kaufte die Domain X.com 2017 zurück und nannte unter anderem seinen Sohn X Æ A-12. Es ist seine eigene obskure Faszination, die er da an Twitter auslebt – und keine hochstrategische unternehmerische Entscheidung, wie etwa die von ihm installierte Twitter-CEO Lina Yaccarino der Öffentlichkeit glauben machen will.
Was wirklich hinter Musks Verhalten steht, hat in diesen Tagen am treffendsten der amerikanische Tech-Kommentator Casey Newton analysiert: Musk hat sich politisch radikalisiert und er befindet sich auf einem Rachefeldzug gegen alles, was er als irgendwie links und „woke“ wahrnimmt – dazu gehört für ihn auch Twitter, mit seinen urbanen Mitarbeitern, liberalen Power-Nutzern, engen Moderationsstandards und natürlich der entsprechend aufgeladenen Marke. „Kultureller Vandalismus“ nennt Newton das – und so müsse man Musks Twitter-Projekt auch verstehen, nicht als Venture, das ihm am Ende Geld einbringen soll. Musk flirtet eben nicht nur mit Verschwörungstheorien und rechtem Gedankengut, er hat all das längst voll verinnerlicht. Es gibt genügend Beispiele dafür.
Alle, die in dieses Vorgehen eine genialische Produktstrategie oder einen langfristig ausgelegten Geschäftsplan hinein interpretieren, ignorieren zwei wesentliche Punkte: Erstens gibt es da keinen Plan, alles folgt nur noch Musks Impulsen. Und wenn es zweitens ein Muster gibt, das über Momentaufnahmen hinausgeht, dann ist es das: Elon Musk ist gerade mit der Abrissbirne gegen ein Projekt unterwegs, das ihm politisch missfällt. Und das ihm praktischerweise auch noch selbst gehört.