Anzeige

Digitale Gegenwelt Einmal im Jahr ein magisches Banner: So finanziert sich Wikipedia

Geschwärzte Wikipedia-Seite in der Türkei: Die Online-Enzyklopädie setzt immer wieder auf öffentlichkeitswirksame Aktionen, auch für die eigene Finanzierung
Geschwärzte Wikipedia-Seite in der Türkei: Die Online-Enzyklopädie setzt immer wieder auf öffentlichkeitswirksame Aktionen, auch für die eigene Finanzierung
© picture alliance/AP Photo | Eric Risberg
Auch die digitale Gegenwelt braucht Geld – und setzt auf innovative Finanzierungsmethoden, wie das Beispiel Wikipedia zeigt

The same procedure as every year: Besucht man Wikipedia in den letzten zwei Monaten eines Jahres, baut sich am oberen Rand des Bildschirms ein animiertes Banner auf. Die Online-Enzyklopädie bittet um Spenden: „Vielleicht kommen wir gerade ungelegen, aber dennoch: Klicken Sie bitte nicht weg! Am heutigen Tag bitten wir Sie bescheiden, die Unabhängigkeit von Wikipedia zu sichern.“

In der digitalen Gegenwelt dominiert der Geist der Nichtkommerzialität. Längst nicht alles entsteht jedoch komplett in der Freizeit. Viele Projekte beschäftigen in unterschiedlichem Ausmaße Personal und benötigen regelmäßige Einnahmen.

Eine kleine App oder eine Browsererweiterung kann man als Freizeitprojekt betreiben. Bei Anwendungen, denen Millionen User ihre Sicherheit anvertrauen, etwa bei einem Internetbrowser wie Firefox oder einem Smartphone-Messenger wie Signal, ist es gut, wenn es zumindest einen Grundstock an Leuten gibt, die bezahlt verlässlich an der Software arbeiten. Und zumindest muss Geld für den Betrieb der Webseite da sein, auf der man die Software herunterlädt oder die erstellten Inhalte konsumiert. Wikipedia verzeichnet pro Monat mehr als zehn Milliarden Aufrufe, die teuren Datenverkehr erzeugen und große Rechenzentren erfordern.

Bei Wikipedia und Co. ist viel Geld im Spiel

Die Stiftungen hinter Wikipedia und Firefox haben jeweils mehrere hundert Angestellte, bei Signal sind es 35, bei der Anonymisierungssoftware Tor 22. Dass mitunter viel Geld im Spiel ist, zeigt ein Blick auf die Gehälter des Führungspersonals der größeren Projekte. Spitzenverdienerin ist Mitchell Baker. Die Vorstandsvorsitzende und operative Chefin der Firefox-Mutter Mozilla verdiente im Jahr 2021 5,6 Mio. US-Dollar.

Der bei der Linux Foundation angestellte Linus Torvalds, einer der beiden Väter des Betriebssystems Linux, kam 2019 auf 1,6 Mio. Dollar. Der Signal-Gründer Moxie Marlinspike verdiente 2020 etwa 600.000 US-Dollar, die damalige Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation Katherine Maher kam auf 800.000 US-Dollar.

Stefan Mey: „Der Kampf um das Internet. Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Tech-Giganten herausfordern“. Erschienen bei C.H.Beck, 236 Seiten, 18 Euro
Stefan Mey: „Der Kampf um das Internet. Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Tech-Giganten herausfordern“. Erschienen bei C.H.Beck, 236 Seiten, 18 Euro

Wie finanziert die digitale Gegenwelt ihre Arbeit? Oft dominiert ein Modell. Und manchmal ist erst bei genauem Hinsehen erkennbar, dass längst nicht alles so ehrenamtlich geschieht, wie es scheint.

Das magische Banner

Die Wikimedia Foundation hat etwa 700 Mitarbeiter, das deutsche Länder-Chapter, der Verein Wikimedia Deutschland e. V., etwa 160 Angestellte.

Das große Content-Projekt finanziert sich zum größten Teil über Spenden, vor allem über dieses eine Banner, das Wikipedia-Besuche im November und Dezember jedes Jahres begleitet. Die Foundation organisiert für die meisten Länder zentral die Spendenkampagne. 2022 sammelte die Stiftung auf die Art 165 Mio. US-Dollar ein.

Der deutsche Wikimedia-Verein betreibt eine eigene Kampagne. Jedes Jahr wird ein neues Spendenziel ausgerufen, das stets ein bisschen höher liegt als im Vorjahr. 2021 waren es 9,2 und 2020 8,7 Mio. Euro. 2022 kamen 9,4 Mio. Euro von 360.000 Einzelspendern und -spenderinnen zusammen. Das Banner ist stets so lange zu sehen, bis das Ziel erreicht ist. Die deutsche Kampagne im Jahr 2022 lief vom 3. November bis zum 30. Dezember.

Till Mletzko leitet das deutsche Fundraising. Dass Wikipedia so erfolgreich beim Spendensammeln ist, habe natürlich mit der Beliebtheit des Projekts zu tun, meint Mletzko. Die User würden gern etwas zurückgeben wollen: „Wissen und der Zugang zu Wissen ist etwas, was sie unterstützen und erhalten möchten. Viele finden es gut, dass es im Internet einen Ort gibt, der nicht von kommerziellen Interessen geprägt, sondern gemeinnützig orientiert ist.“

So funktioniert das Wikipedia-Fundraising

Die heiße Phase des Fundraisings beginnt schon im Sommer jedes Jahres. Mletzko und sein Team wenden Methoden an, die man an- sonsten aus dem klassischen Onlinemarketing kennt, wenn ein „Werbemittel“ optimiert wird, damit es möglichst viele Einnahmen einspielt. Auch dieses eine magische Banner, dem Wikipedia seine stabile Finanzsituation verdankt, soll so effektiv wie möglich sein. Die Maßzahl für die Effektivität lautet: Spende pro Impression, also pro Einblendung des Spendenbanners. 2022 lag der Wert bei 0,01 Prozent.

Schon ab Juli 2022 haben zwei bis fünf Prozent der deutschen Wikipedia-User einen Prototyp des Spendenbanners zu sehen bekommen. Wikimedia Deutschland führt jedes Jahr aufs Neue A/B-Tests durch. Dabei wird in jedem Testlauf ein Detail verändert. Man spielt mit der Bannergröße oder probiert aus, wie sich eine andere Farbe oder eine neue Formulierung auf die Spendenquote auswirkt. Im Laufe der Jahre hat sich in solchen Tests beispielsweise gezeigt, dass die reine Nennung des Landes zu einer elfprozentigen Steigerung der Spenden geführt hat. Deshalb richtet sich das Banner in der Überschrift „An alle, die Wikipedia in Deutschland nutzen“. 2022 haben Mletzko und sein Team 58 solcher Testläufe durchgespielt.

Manchmal stellen sich Thesen auch überraschend als falsch heraus, wie der ehemalige Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, Pavel Richter, in seinem Buch „Die Wikipedia-Story“ schreibt. Bis 2013 hatte man sich an der im Onlinemarketing beliebten „Social Proof“- These orientiert, nach der Menschen sich gern so verhalten, wie andere vor ihnen. Deswegen hatte es bis dahin im Banner geheißen: „... schon 200.000 Menschen haben bisher gespendet“. Mletzko und sein Team veränderten die Formulierung und machten aus dem stolzen „schon“ ein vorwurfsvolles „aber nur“. Dank dieser minimalen Anpassung stieg die Spendenquote um 22 Prozent.

Ganz ohne Geld geht es nicht

Die Bannerkampagne ergänzt das Fundraising-Team mit Direktmarketing: Menschen, die in der Vergangenheit gespendet haben und die Erlaubnis gaben, sie wieder zu kontaktieren, werden per Mail oder Post nach einer erneuten Spende oder der Einrichtung einer Dauerspende gefragt. Die gesamten Spendeneinnahmen des Vereins im Jahr 2022 betrugen 14,7 Mio. Euro.

Die Spendengelder nimmt die gemeinnützige Wikimedia Fördergesellschaft mbH entgegen, eine Tochter des Vereins. Den Großteil der Gelder überweist die Fördergesellschaft an die Foundation und den Rest an den Verein, der dann wiederum einen kleineren Betrag in Form von Projektförderung von der Wikimedia Foundation erhält.

Der Verein nutzt die Zeit der Bannerkampagne außerdem, um für eine Mitgliedschaft bei Wikimedia Deutschland zu werben. Im Frühjahr 2023 hatte der Verein knapp 110.000 Mitglieder, die einen jährlichen Mindestbeitrag von 24 Euro bezahlen. 97 Prozent davon sind Fördermitglieder ohne Stimmrecht auf Mitgliederversammlungen, die den Verein auf diese Art dauerhaft finanziell unterstützen. 2022 hat der Verein 5,1 Mio. Euro aus Mitgliedsbeiträgen eingenommen.

Kein anderes Projekt der digitalen Gegenwelt kann sich annähernd so gut wie Wikipedia direkt über seine User finanzieren.

Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Der Kampf um das Internet. Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Tech-Giganten herausfordern“ von Stefan Mey, das am 12. Oktober bei C.H.Beck erscheint

Mehr zum Thema

Neueste Artikel

VG-Wort Pixel