Die Lage in Afghanistan und besonders rund um den Flughafen von Kabul ist nach wie vor dramatisch, die Bilder machen einen sprachlos. Es ist die Gleichzeitigkeit von Angst und Leid der Afghanen, die nur noch rauswollen; von Mut und Überforderung der Helfer und Soldaten vor Ort – und zugleich diese organisierte Verantwortungslosigkeit all jener in Washington, Brüssel und auch hier in Berlin, die diese Tragödie durch ihr Tun und Unterlassen erst ermöglicht haben: Alles zusammen hat in dieser Woche die westliche Welt, die sich so gerne als Wertegemeinschaft sieht, erschüttert. Die Folgen dieses Fiaskos können wir erst in Ansätzen absehen.
Fast schon kleinlich wirkt da die hiesige Debatte, wer nun in Deutschland sein Amt aufgeben sollte – der Außenminister, die Verteidigungsministerin, der Innenminister – oder am besten gleich alle drei? Natürlich stehen hinter dem Fall von Kabul und der Tragödie gewaltige Fehler und Fehleinschätzungen, für die Rücktritte mehr als fällig sind. Doch sind das wirklich gerade die dringendsten Probleme? Zumal Horst Seehofer (Innen) ohnehin aufhört, und die Chancen von Heiko Maas (Außen) auf eine weitere Amtszeit als Minister schon vor der Katastrophe von Kabul eher schlecht standen.
Hinzu kommt die kühle Logik des Wahlkampfs: Vier Wochen vor der Wahl gibt kein Minister mehr sein Amt auf, keine Partei will einer anderen, mit der man sich schon bald wahrscheinlich wieder an einen Tisch setzen muss, ein Kabinettsmitglied absägen. Im Gegenteil: FDP und Grünen nützen in diesen Tagen drei geschlagene Minister von Union und SPD im Amt mehr als eine Kabinettsumbildung kurz vor knapp.
Rückzug der USA
Viel wichtiger aber als die Personalien ist, was langfristig aus dieser Krise folgt. Wenn man von den Tweets absehe, dann sei schwer vorstellbar, wie Trump diese Sache schlimmer hätte handhaben können, zitierte die „Financial Times“ in dieser Woche einen prominenten Republikaner in Washington. Wenn es nach vier Jahren Trump noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dann haben ihn Amerikas Alliierte nun erhalten: US-Präsidenten, egal ob es überdrehte Republikaner oder diplomatisch gewandtere Demokraten sind, interessieren sich nicht mehr für die alte Sicherheitsarchitektur des Westens. Die USA ziehen sich zurück – durchaus verständlicherweise, um die Probleme zuhause in den Griff zu bekommen. Und um sich zu konzentrieren auf den Wettstreit mit China.
„America first“ war ein Schlachtruf in den Stadien unter Trump, es war die Devise des überstürzten Abzugs, und er ist nun unter Biden das Ordnungsprinzip an den Toren des Kabuler Flughafens. Schmerzlich erfahren mussten dies am Mittwoch zum Beispiel Dutzende Niederländer, die von US-Soldaten nicht auf das Airportgelände gelassen wurden, obschon ihre Maschine bereits auf dem Flugfeld wartete. Das Flugzeug musste weitegehend leer wieder starten. „Viele Menschen waren mit ihren Familien, mit ihren Kindern dort. Sie befanden sich am Eingang des Flughafens. Es ist schrecklich“, erklärte die niederländische Außenministerin Sigrid Kaag anschließend in Den Haag. Selbst unter Trump wäre so ein Vorgehen unter Nato-Partnern schwer vorstellbar gewesen.
Bitter sind auch die Berichte über den britischen Verteidigungsminister Ben Wallace, die nun bekannt werden und der über den Frühsommer noch versuchte, den absehbaren Rückzug der Amerikaner – die mit gerade mal 2.500 Soldaten noch vor Ort waren – durch Truppen und Geräte aus anderen Nato-Staaten zu ersetzen, um die Mission zu retten und den Siegeszug der Taliban zu verhindern. Denn es war ja so: 10.000 Soldaten aus 37 Nato-Staaten sicherten in den vergangenen Jahren eine gewisse Machtbalance, die die Taliban zumindest in Schach hielt. 20 Jahre Kampf und Aufbau, die Arbeit von Hunderttausenden Soldaten (auch vielen getöteten) und Helfern, wurde binnen Tagen aufgegeben, weil die Nato im Jahr 2021 nicht in der Lage war, 2.500 US-Soldaten, deren Logistik und Kampffähigkeiten zu ersetzen.
„Kleinere Ziele“ setzen?
Man will sich gar nicht ausmalen, wie Putin und Xi dieses Debakel in Moskau und Peking verfolgt haben. Die USA blamiert bis auf die Knochen, die Nato handlungsunfähig, die EU – ja, was macht eigentlich die EU? Streitet sich schon wieder über die Unterbringung möglicher Flüchtlinge (wofür wir tatsächlich einen Plan brauchen), aber ansonsten: Keine Unterstützung für die Mitgliedstaaten, keine Hilfsaktion, keine abgestimmte Intervention in Washington, nichts. Statt politisch endlich in seine wirtschaftliche Größe hineinzuwachsen, verzwergt sich Europa immer mehr. Und währenddessen verkündet China, man freue sich auf die künftige Zusammenarbeit mit den Taliban, vom Ausbau der Infrastruktur bis zur Förderung wichtiger Rohstoffe gebe es ja zahlreiche gemeinsame Interessen.
Die ebenfalls in wenigen Wochen aus dem Amt scheidende Angela Merkel zieht aus dem Scheitern in Afghanistan folgende Erkenntnis: Man müsse sich wohl bei künftigen Auslandseinsätzen „kleinere Ziele“ setzen, hat sie diese Woche erklärt. Wahrscheinlich ist da etwas dran, wahrscheinlich war der Einsatz in Afghanistan von Anfang an vermessen und viel zu vage. Andererseits: Nato-Soldaten sichern immer noch die Lage im Kosovo, selbst in Bosnien-Herzegowina stehen seit mehr als 25 Jahren und noch heute Soldaten aus 19 europäischen Staaten, um den Frieden dort zu sichern. Die Überwindung eines Krieges und der Aufbau einer Nation brauchen Geduld und Geld und den Einsatz von vielen Menschen und Ressourcen.
So typisch die Devise von den „kleineren Zielen“ für diese Kanzlerin ist, sie birgt eine Gefahr: Dass nämlich die Mut- und Ambitionslosigkeit in Europa und in Washington immer weiter um sich greift, dass der Westen, wenn er denn so überhaupt noch existiert, immer weiter zerfällt. Neben all den innenpolitischen Themen wie den Folgen des Klimawandels, der schleppenden Digitalisierung und dem Umgang mit dem Corona-Virus, die wir in diesen Wochen diskutieren, ist die große, brandgefährliche Lücke in der Außenpolitik in dieser Woche schlagartig deutlich geworden.
Immerhin, auch dafür kann die Wahl in vier Wochen die Chance auf einen Neuanfang sein.
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