Wenn die Ökonomen und Historiker in einigen Jahren auf die Entwicklung der Globalisierung zurückblicken, werden sie das Jahr 2022 mit ziemlicher Sicherheit als Scheitelpunkt epochaler Veränderungen analysieren. Wir erleben vor unseren Augen eine Neuvermessung der globalen Lieferketten wie zuletzt vor über 20 Jahren. Sie produziert Verlierer und Gewinner – unter den Staaten und unter den großen Konzernen. Und die neuen Warenströme lenken auch die Kapitalströme um – mit großen Auswirkungen auf institutionelle und private Anleger.
Fünf wichtige Trends erschüttern das Bild der Globalisierung, an das wir uns in den letzten 20 Jahren gewöhnt haben.
- Erstens beendet der Ukraine-Krieg ein für alle Mal die Rolle Russlands als wichtigster Öl- und Erdgaslieferant Europas. An seine Stelle treten Förderländer aus der zweiten Reihe wie Kasachstan, Aserbeidschan, Algerien und sogar Israel, vor allem aber auch die USA. Weil mit diesen Veränderungen auch gewaltige Geldströme eine neue Richtung einschlagen und den Reichtum der Welt neu verteilen, wirken sie sich auch auf viele andere Sektoren aus.
- Zweitens geht die Bedeutung Chinas in der internationalen Arbeitsteilung zurück, auch wenn sie sehr groß bleibt. Der Chip-Krieg mit den USA, die wachsende Skepsis westlicher Investoren gegenüber dem Xi-Jinping-Regime und die vorsichtigere Haltung der westlichen Staaten bremsen das chinesische Wachstum. Immer mehr Konzerne diversifizieren Zuliefererketten, um nicht in Abhängigkeit von Lieferanten in der Volksrepublik zu geraten. Davon profitieren Länder wie Vietnam oder Indien.
- Drittens wandern Investitionen wieder verstärkt in die USA, die sich wieder einmal als wirtschaftlich stärker erweisen als von vielen behauptet. Als Standort für energieintensive Industrien – zum Beispiel die Chemiebranche – gewinnt das Land eine neue Attraktivität. Deutschland verliert Industriejobs, die USA schaffen neue Industriejobs.
- Viertens verlagern sich im Gefolge des Ukraine-Kriegs die Gewichte innerhalb der EU. Die Osteuropäer schließen sich zusammen, bringen gemeinsame Projekte auf den Weg (Beispiel Rüstungskooperation) und drängen Frankreich und Deutschland ein Stück zurück.
- Fünftens übernimmt Japan, von vielen noch völlig unbeachtet, eine stärkere Führungsrolle in Ostasien. Auch Südkorea baut seine Stellung in der Weltwirtschaft aus. Beide Länder zählen zu den wirtschaftlichen Profiteuren des relativen Bedeutungsverlusts von China.
Natürlich darf man das Bild nicht schwarz-weiß malen. Viele Veränderungen werden eine lange Zeit brauchen. Sie können sich beschleunigen (zum Beispiel durch einen chinesischen Angriff auf Taiwan), aber auch wieder verlangsamen (zum Beispiel durch eine weniger aggressive Politik Chinas). Deutschland gehört auf den ersten Blick eher zu den relativen Verlierern dieser neuen Etappe der Globalisierung, kann aber auch profitieren. Zum Beispiel in Osteuropa und beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg, wenn dort deutsche Maschinen und deutsches Know-how dringend gebraucht werden. Die deutsche Industrie hat sich in der Vergangenheit immer wieder als lernfähig und flexibel erwiesen, wenn es wirklich darauf ankam. Man erinnere sich nur an die gewaltigen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung.
Die große Frage für die nächsten Jahre lautet: Stellt sich auch die deutsche Politik schnell genug auf die starken globalen Veränderungen ein? Bisher sendet sie widersprüchliche Signale. Bundeskanzler Olaf Scholz gehört zu den Mitgliedern der Weiter-so-Fraktion und wirkt über weitere Strecken wie eine Inkarnation von Angela Merkel. Doch damit kommt Deutschland in Zukunft nicht aus.