In dieser Woche drehte sich die Diplomatie im Weißen Haus vorrangig um die Ukraine-Krise und einen drohenden Krieg. Doch fand US-Präsident Joe Biden die Zeit, um öffentlichkeitswirksam mit König Salman von Saudi-Arabien zu telefonieren. In dem Gespräch bekräftigten beide eine gemeinsame Verpflichtung, „Stabilität in der Energieversorgung sicherzustellen“.
Angesichts des jüngsten Preissprungs bei Erdöl auf mehr als 90 Dollar pro Barrel für die Sorten Brent und für West Texas Intermediate – ihr höchster Stand in sieben Jahren – sollte das nicht verwundern. Die Entwicklung kommt noch zu den bereits hohen Inflationsrisiken hinzu. Und für Biden, dessen Wählerschaft an der Tankstelle 3,47 Dollar für eine Gallone Sprit – ein Rekordwert seit 2014 – bezahlen muss, kann daraus ein ernsthaftes politisches Risiko werden.
Daher die Schalte zwischen Weißem Haus und König Salman. Schließlich ist ein wesentlicher Preistreiber die Knappheit am Ölmarkt, wie Jeff Currie, der führende Rohstoffanalyst von Goldman Sachs diese Woche treffend bemerkte. „In meiner 30-jährigen Erfahrung habe ich solche Märkte noch nicht beobachtet“, sagte er. „Das ist eine molekulare Krise. Uns geht allmählich alles aus."
Doch bei aller Nervosität über die Rohölpreise gibt es ein weiteres Problem, das Politiker und Anleger im Auge behalten sollten: nämlich was Robohändler derzeit mit Derivaten anstellen. Normalerweise wird dies von der breiten Öffentlichkeit kaum beachtet, weil der Derivatehandel so undurchsichtig ist.
Aber diese Nische des Finanzwelt fördert derzeit Zahlen zutage, die noch verblüffender sind als die Marke von 90 Dollar pro Barrel. Es könnte die Spotmarktpreise in den kommenden Monaten sogar deutlich über die 100-Dollar-Marke treiben – und damit einen ebenso dramatischen Absturz in der Zukunft auslösen.
„Super Backwardation“
Die Terminmarktpreise befinden sich in einem Zustand, den Analysten als „Super-Backwardation“ bezeichnen. Das bedeutet mit anderen Worten, dass zwischen den (hohen) kurzfristigen Terminkontrakten für Öl und den (niedrigeren) langfristigen Kontrakten eine fast rekordverdächtige Lücke klafft. Ein weiteres Anzeichen für Verwerfungen ist das Ausmaß der über den Optionsmarkt platzierten Wetten auf künftige Ölpreise.
Wie der altgediente Ölmarktexperte Philip Verleger in einem kürzlich erschienenen Bericht feststellt, ist die Zahl der Call-Kontrakte mit Strike-Preisen über 100 Dollar pro Fass (d.h. Wetten, die Gewinne abwerfen, wenn der Preis diese Marke durchbricht) in letzter Zeit explodiert. Nach seinen Berechnungen beläuft sich das Volumen dieser Call-Optionen für Juni und Dezember 2022 auf rund 714.000 auf Basis von Zahlen der Commodity Futures Trading Commission (CFTC). Das entspreche einem Vielfachen des „normalen“ Niveaus und erzeuge ein „noch nie dagewesenes” Niveau an „offenem Interesse“ (d.h. an Wetten).
Den anfänglichen Auslöser hierfür kann man in den wirtschaftlichen Fundamentaldaten suchen – in der Art von knappem Angebot im Verhältnis zur gestiegenen Nachfrage. Daher rief Biden auch bei Salman an. Philip Verleger glaubt jedoch, dass die Schieflage durch ein anderes, weit weniger diskutiertes Phänomen drastisch verstärkt wurde: nämlich eine starke Zunahme des automatisierten Handels durch Anleger, deren Strategien sich häufig auf Algorithmen und künstliche Intelligenz stützen.
Das ist höchstwahrscheinlich richtig. Als die Handelsaufsicht dieses Thema das letzte Mal im Jahr 2019 untersuchte, kam sie zu dem Ergebnis, dass etwa 80 Prozent der Energiegeschäfte durch automatisierte Eingaben – und nicht durch manuelle Transaktionen – ausgelöst wurden. Sechs Jahre zuvor waren es noch 65 Prozent (und in den vergangenen Jahrzehnten noch viel weniger). Ich würde wetten, dass dieser Anteil inzwischen noch höher gestiegen ist.
Robos verschärfen Herdentrieb
Da diese automatisierten Strategien in der Regel mithilfe von künstlicher Intelligenz die Marktdynamik analysieren und auf sie reagieren – und nicht auf die wirtschaftlichen Fundamentaldaten an sich –, verschärft dies tendenziell den Herdentrieb, und zwar nicht nur auf den Rohstoffmärkten, sondern in jeder Anlageklasse. Und da die Anbieter dieser Derivatewetten ihre eigenen Risiken mit anderen Instrumenten absichern müssen, führt extremes Herdenverhalten der Robos zu Marktverwerfungen in allen Nischen, die plötzlich aus dem Ruder laufen können und heftige Volatilität bewirken.
Ein Beispiel dafür war im November 2021 zu beobachten, als die Ölpreise plötzlich abstürzten. Ein weiteres im März 2020. Ölmarktexperte Verleger erwartet nun ein drittes Drama, wenn die Ölpreise die Schwelle von 100 Dollar pro Fass durchbrechen und damit die Spotpreise in die Höhe schießen. „Heute werden die Ölpreise von mathematischen Modellen bestimmt“, sagt er. „Ein Ende des KI-gesteuerten Preisanstiegs ist zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht.“
Natürlich zeigt die Geschichte, dass diese Art von dramatischem Höhenflug in der Regel ebenso brutal wieder zurückgedreht wird, betont der Analyst. Vor 15 Jahren stieg der Ölpreis für Brent-Kontrakte von 54 Dollar pro Fass Anfang 2007 auf 132 Dollar im Juli 2008 – bevor sie im Dezember desselben Jahres nach der Finanzkrise wieder auf 40 Dollar einbrachen.
Heute könnte sich ein vergleichbarer Zyklus infolge des automatisierten Handels noch schneller vollziehen, insbesondere dann, wenn Inflationsängste die Wachstumshoffnungen trüben. Einige Händler wie Ed Morse von der Citigroup wetten bereits auf dieses Szenario.
Volatilität programmiert
Vorerst müssen Politiker und Anleger jedoch vor allem verstehen, dass die Aussicht auf einen Ölpreis von 100 Dollar nicht nur auf menschliche „Spekulanten“ oder Ölkartelle zurückzuführen ist, sondern dass auch der Roboterhandel eine Schlüsselrolle spielt.
Deshalb sollten die Regulierungsbehörden nicht versuchen, den computergesteuerten Handel zu verbieten – dieser Zug ist schon längst abgefahren. Wie aus dem CFTC-Bericht hervorgeht, ist der Anteil des Robo-Trading auf den Energiemärkten im Vergleich zum Aktienhandel eher gering.
Das Muster ist jedoch ein Fingerzeig darauf, dass sich Anleger und Aufsichtsbehörden auf eine gewisse heftige Volatilität gefasst machen und auf Ansteckungsgefahren achten müssen. In unserer Welt sind menschliche und computergesteuerte Handelsstrategien immer stärker miteinander verflochten. Dies kann zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen – erst recht, wenn es zu Schocks kommt, wie wir sie womöglich in der Ukraine erleben werden.
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