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Essay Die große Freiheit

Die klare Abgrenzung von der neuen Rechten ist eine Chance für einen toleranten und offenen Liberalismus. Ein Essay von Karen Horn
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© Illustration: Jindrich Novotny
KarenHorn

Karen Hornwar Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft – bis sie aus Protest gegen das Mobbing, das auf ihre Warnung vor Neurechts folgte, Mitte Juli aus dem Verein austrat. Die Ökonomin und Publizistin lebt und arbeitet in Zürich.

Seit einiger Zeit vollzieht sich ein bestürzender gesellschaftlicher Wandel: Die Stimmen am rechten Rand werden zahlreicher, lauter, boshafter, extremer. Es gibt gerade dort eine verblüffend hohe Zahl an Wutbürgern, die aus Prinzip gegen alles Mögliche sind und ihren Hass gegen das „System“ herausposaunen, sei es aus Frustration, Langeweile, Orientierungslosigkeit oder Paranoia. Man erkennt die Neurechten mühelos an ihrer eifernden Sprache und an ihren Verschwörungstheorien – alles ist ihnen sofort „Wahn“, „Wahnsinn“, „Betrug“, „Komplott“, „Propaganda“ und „Lüge“.

Mehr denn je tritt in dieser Entwicklung zutage, welch unheilvolle Allianzen entstehen, wenn man den Liberalismus nur spartenweise betreibt, ihn insbesondere auf einen „Wirtschaftsliberalismus“ reduziert. Denn als Folge einer solchen Engführung bekommt man es mit Menschen zu tun, die zwar den Markt hochhalten und dem verbreiteten Etatismus Einhalt gebieten wollen, ansonsten aber mit individueller Freiheit nicht viel am Hut haben: Personen, die sich zwar seit Jahren für Eigentum und Vertragsfreiheit einsetzen, jetzt aber unbeschadet dessen vor allem gegen Ausländer hetzen und „optimale kulturelle Absorptionsquoten“ berechnen. Die stets die Übergröße des Wohlfahrtsstaats gegeißelt haben, nun aber in kruden Nationalismus verfallen. Die immer gegen Umverteilung waren, nun aber gehässig über Homosexuelle herziehen und Sexismus an den Tag legen. Denen die Idee einer Entnationalisierung des Geldes plausibel ist, die aber zugleich Wladimir Putin verfallen sind, gegen TTIP wettern und ohne „Reevangelisierung des Abendlandes“ den Untergang nahen sehen.

So gruselig das Erstarken des neurechten Milieus ist, es hat auch etwas Gutes. In der Abgrenzung hiervon ergibt sich nämlich eine Gelegenheit, den normativen Markenkern des Liberalismus auch jenseits des Marktwirtschaftlichen klar zu benennen: Menschenfreundlichkeit, Toleranz, Respekt, Offenheit, Zukunftsvertrauen.

Der Einzelne hat Vorrang

Ob man nun ein Gebot der Menschenfreundlichkeit, der Toleranz und des Respekts theologisch aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ableitet oder ob man schlicht den „methodologischen Individualismus“ der Ökonomen auf eine normative Ebene hebt – alles liberale Denken geht vom einzelnen Menschen aus, den es zu schützen und in seinen Rechten zu stärken gilt. Hieraus ergibt sich der normative Vorrang der Ergebnisse freiwilliger Interaktion vor staatlichen Setzungen und kollektivistischen Tagträumereien; hieraus ergibt sich auch das typische Misstrauen gegenüber allzu gestaltungsfreudigen und übergriffigen Regierungen.

Dabei führt dieser Respekt vor dem Individuum logisch durchaus ganz und gar nicht zu jenem überbordenden Hass auf den Staat und das „System“, wie ihn die Neurechten pflegen. Aus liberaler Warte gilt es, den Staat weder zu lieben noch ihn zu hassen, ihm weder zu viel noch zu wenig zuzutrauen.

Klar, auch Politiker verfolgen eigene Interessen; Mehrheiten können Minderheiten ausbeuten; die Präferenzen der Bürger kommen selbst in direkt-demokratischen Prozessen nicht voll zur Geltung. Unbeschadet dessen ist die Politik einer von mehreren legitimen Regelkreisen sozialer Koordination, und die repräsentative Mehrheitsdemokratie stellt ein bewährtes Verfahren zum gewaltfreien Ausgleich widerstrebender Interessen dar – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese politische Freiheit ist gewiss nicht alles, aber sie ist ein unverzichtbarer Baustein der Freiheit.

Der Respekt vor dem Individuum bedingt zwingend, dass der Liberalismus nicht nur eine politische Kategorie ist. Er beschreibt auch eine Haltung, die das Gebot der Nichtübergriffigkeit von der politischen auf die persönliche Ebene überführt. Andere Menschen seriös anzusprechen, sie anzunehmen und so sein zu lassen, wie sie sind, sie nicht zu bedrängen, ihnen ihre Überzeugung und ihren Lebensentwurf weder mittels staatlichen Zwangs zu erschweren noch ihnen diese „austreiben“ zu wollen, sie weder zu verunglimpfen noch sie für ihren Weg oder ihre Meinung mit Häme und Spott zu überschütten – all das macht eine freiheitliche Haltung aus. Diese Menschenfreundlichkeit ist das eigentliche Wesen des Liberalismus, hierin liegt seine zeitlose Attraktivität. Liberal zu sein ist auch eine Frage der Haltung, des Stils und des Benimms.

Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viele vielversprechende Köpfe der Liberalismus schon verloren hat, weil sich Waldschrate anmaßen, für ihn zu sprechen, die nichts als reaktionär herumpöbeln; die andere nicht zu gewinnen, sondern zu überwältigen suchen; die eine Sekte treu ergebener Jünger formen wollen und dem Rest der Gesellschaft, dem „Mainstream“, nur noch Verachtung entgegenbringen.

eine anspruchsvolle, ermutigende Philosophie

Wer darüber aufklären will, dass Etatismus und Kollektivismus gefährlich sind und dass der Liberalismus Besseres anzubieten hat, der sollte dies sachlich und präzise erklären, statt die weniger Empfänglichen auszugrenzen und die Bereitwilligen aufzuhetzen und zu einer Zelle zusammenzuschmieden, in der sie nur zweierlei verbindet: dumpfer Hass und blinde Anhänglichkeit an ihren Einpeitscher. Jeder Mensch verdient, dass man ihn respektvoll und nicht manipulativ anspricht; dass man sich für sein Denken interessiert, statt ihn für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren; dass man ihm keine einfachen Wahrheiten vorgaukelt und ihn an den Emotionen packt, wo komplexe Probleme eine genaue, seriöse, sachliche Analyse und eine mitunter anstrengende Balance erfordern.

Im Grundrauschen des Politikbetriebs gehen allzu feinsinnige Argumentationen leicht unter, mag man dem entgegenhalten. Richtig – im politischen Diskurs sind klare Worte notwendig, und manchmal müssen sie auch aufrütteln.

Aber man kann sehr wohl über die ökonomische Schädlichkeit von Mindestlöhnen sprechen, ohne das ganze Land gleich maßlos als „sozialistisch“ zu bezeichnen. Genauso kann man eine Politik der Inklusion, die alle Kinder, ob mit, ob ohne Behinderung, in eine Einheitsschule schickt, für unzweckmäßig halten und das auch deutlich sagen, ohne in NS-Deutsch „Gleichschaltung“ zu brüllen. Man kann Frauenquoten als Eingriff in die Vertragsfreiheit kritisieren und sich über verkrampfte Bemühungen um eine geschlechtsneutrale Sprache amüsieren, ohne sich über den „Genderismus“, „militanten Egalitarismus“ und eine „Religion der Gleichheit“ zu ereifern.

Ebenso kann man daran erinnern, dass Mütter (wie übrigens auch Väter), die sich selbst daheim um die Kinder kümmern, Wertvolles leisten, ohne erwerbstätigen und kinderlosen Damen mitzugeben, dass sie ihrer „natürlichen Bestimmung als Frau“ nicht gerecht würden. Man kann die Euro-Rettungspolitik als verfehlt bezeichnen und – was durchaus nicht trivial ist – über Alternativszenarien nachdenken, ohne die EU gleich als „EUdSSR“ zu verteufeln. Man kann, ja man muss auf die Schwierigkeiten hinweisen, einer großen Zahl von Flüchtlingen eine Heimstatt und eine Perspektive zu geben, ohne von „nicht integrierbaren Kulturen“ und steigender Ausländerkriminalität zu faseln.

Mit derlei so boshaften wie verdummenden Maßlosigkeiten und Anmaßungen darf der Liberalismus nicht assoziiert werden. Er ist eine anspruchsvolle, ermutigende Philosophie. Dass diese nicht immer einfach zu vermitteln ist, sollte seine politischen Vertreter wie auch seine akademischen Fürsprecher zu noch mehr Mühe und Realismus anspornen – und nicht zu mehr Platitüden und Gehässigkeit. Der von Liberalen viel kritisierte Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ beispielsweise ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen und spiegelt offenbar ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Miteinander. Da hilft es wenig, Gerechtigkeit penibel als individuelle Tugend zu fassen, Gleichheit nur vor dem Gesetz gelten zu lassen und alles andere als linken Schwachsinn zu verteufeln – und so die Debatte zu beenden.

Liberalismus nicht für platte Parolen missbrauchen

Man muss auch nicht gleich die Drohung wittern, dass den Reichen, Schönen, Intelligenten und Gesunden ihr Glück genommen werden soll, sobald es darum geht, den Armen, Hässlichen, Dummen und Kranken ein wenig aufzuhelfen. Die Frage ist nur, wie dieses Aufhelfen vonstattengehen kann.

Die Liberalen haben hier eine Menge Empfehlungen anzubieten und sollten sich von Leuten, die schon beim Wort „Gerechtigkeit“ Pickel bekommen, nicht den Mund verbieten lassen. Im Gegenteil: Gerade liberale Wissenschaftler sollten es ihren Kollegen aus den Vereinigten Staaten wie Pete Boettke, Tyler Cowen und anderen nachtun. Diesen bricht kein Zacken aus der akademischen Krone, derlei angeblich „linke Anliegen“ ernst zu nehmen, systematisch über sie nachzudenken und immer wieder anschaulich zu erklären, wie eine Politik sich nicht in Aktionismus ergeht, sondern neue Freiräume für privates Handeln schafft.

Vor allem aber gilt es, sich dagegen zu verwahren, dass aus dem Liberalismus missbräuchlich platte Parolen abgeleitet werden, in denen er mit Frauenfeindlichkeit und Homophobie, mit Rassismus und Antisemitismus oder mit anderen Scheußlichkeiten in Verbindung gerät. Allerdings sollte man sich nicht zu lange mit dem rechten Rand befassen. Abgrenzen ja, in aller Deutlichkeit und ohne Zögern – und dann muss die positive Arbeit kommen. Eine Arbeit, bei der man natürlich auch immer wieder Nein sagen und das sich allzu leicht verselbstständigende Staatshandeln einzuhegen versuchen muss, bei der man vor allem aber bereit sein muss, jene Themen, die den Menschen wichtig sind, in einem positiven Sinne aufzugreifen und kreativ nach liberalen Lösungen zu suchen.

Oftmals wird man damit an „Schmerzpunkte“ des Liberalismus geraten, an Stellen, an denen selbst liberale Prinzipien in Kollision geraten und man mit platter Dogmatik zwar schnell zu einem Ergebnis, aber nicht zu einer Lösung kommt. Beispiel: Zuwanderung in Zeiten von Krieg und Armut, wie wir sie derzeit erleben. Es lässt sich ebenso gut begründen, dass die Bewohner eines Aufnahmelandes Eigentumsrechte haben, aufgrund derer sie gemeinsam entscheiden können, wem sie den Zutritt gewähren, wie dass es gegen den Geist des Liberalismus verstößt, Menschen daran zu hindern, sich zu retten oder auch nur ihr wirtschaftliches Los zu verbessern. Was also konkret tun? Grenzen komplett auf oder hermetisch zu, sofern die Bevölkerung sich das wünscht und man die Gesetze entsprechend ändern kann?

Nichts ist einfach

Beginnend mit der Aufklärung über die Produktivitätsgewinne, die durch Zuwanderung entstehen, dürfte eine verantwortungsvolle liberale Lösung in der Mitte liegen, im so pragmatischen wie umsichtigen Versuch, der Heimat verlustig gegangenen Menschen zu helfen, ohne die Realität und die zur Verfügung stehenden Mittel aus dem Blick zu verlieren. Meistens geht da allerdings durchaus noch eine Menge – insbesondere dann, wenn die staatlichen Initiativen und Regulierungen auch den Bürgern Freiraum lassen, spontan auf die Neuankömmlinge zuzugehen, ihnen unkompliziert zu helfen und ihnen privat Wärme, vielleicht sogar eine Perspektive zu geben.

Anderes Beispiel: Terrorbekämpfung in Zeiten des Internets. Wie sieht eine konsequent liberale Politik aus, wenn man einerseits die Privatsphäre und das Privateigentum der Bürger an den eigenen Daten schützen und andererseits für physische Sicherheit sorgen will? Jeder Liberale muss sich krümmen beim Gedanken an die systematische (und leider nicht nur von der Sorge um Sicherheit getriebene) Ausspähung der Menschen durch Nachrichtendienste. Doch was wäre der Preis, wenn dies unterbunden würde? Wie viele gefährliche Terroristen blieben unentdeckt und unbehelligt und könnten ihr teuflisches Werk verrichten? Hier gilt es eine Lösung zu finden, welche die Überwachung wenigstens in einem legitimen und klar definierten legalen Rahmen hält, ihre Akteure also aus den Grauzonen holt und der Herrschaft des Rechts unterwirft. Einfach ist nichts daran.

Oder: Wie sieht eine konsequent liberale Politik aus, wenn man weder den Klimahysterikern folgen will, die den dahinschmelzenden Polarkappen alles andere unterordnen, noch der nicht minder hysterischen Gegenseite, die in Pegida-Manier von „Klimalüge“, „Klimalobby“ und „Betrug am Verbraucher“ fabuliert?

Aus liberaler Perspektive ist immer der spontanen Interaktion der Vorrang gegenüber einer Steuerung zu geben, weil darin Kreativität steckt, Neues entsteht, lokales Wissen vernetzt und erweitert wird. Also muss man das Interesse an einem stabilen Klima ernst nehmen, verlässliche Informationen über die Dringlichkeit des Handelns beschaffen und neue Methoden der Anpassung ermöglichen – statt dass die Regierung Letztere gleich auch selbst definiert und finanziert.

Sympathie fürs krumme Holz

Das ist der Kern des Liberalismus, wie er mir persönlich vorschwebt. Es ist dies kein Liberalismus, der sich in der Abwehr, im kategorischen Neinsagen schon zu erfüllen glaubt. Es ist dies keine plumpe, absichtlich provozierende Ideologie des legitimen Egoismus, der wirtschaftlichen und sozialen Eliten oder des Hasses auf alles Moderne und Fortschrittliche. Es ist dies aber auch nicht bloß eine naive freiheitliche Träumerei.

Es bleibt ein Liberalismus, als dessen Anhänger man wieder und wieder erklärt und erklären muss, wie und an welchen Stellen in unserem Alltag die Freiheit in Gefahr gerät; warum, inwiefern und unter welchen Rahmenbedingungen freiwilliges privates Handeln bessere, kreativere und tragfähigere Lösungen erbringt als zentralstaatlich geplante Strategien; weshalb wirtschaftlicher Wettbewerb solidarischer ist als Teilen; inwiefern die Demokratie einer Einhegung bedarf und selbst der Volkswille nicht alles ist. Vor allem aber ist es ein seriöser, anspruchsvoller, respektvoller, offener Liberalismus, dessen Fürsprecher das „krumme Holz“, aus dem Kant die Menschheit geschnitzt sah, nicht zurechtzubiegen suchen.

Der Liberale betrachtet es mit Milde und Wohlwollen.

Der Essay ist zuerst in Capital 10/2015 erschienen. Interesse an Capital? Hier können Sie sich die iPad-Ausgabe herunterladen. Hier geht es zum Abo-Shop, wenn Sie die Print-Ausgabe bestellen möchten.

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