Die Corona-Pandemie hat Weltwirtschaft und Gesellschaften in eine tiefe Krise gestürzt - mit Hunderttausenden Toten und vielen Millionen Arbeitslosen. Haben wir zumindest in Deutschland bald das Schlimmste überstanden?
MARCEL FRATZSCHER: Das wissen wir nicht. Ich befürchte, dass viele sich im Augenblick in einer Art übertriebener Euphorie befinden. Sie haben die Nase voll von Restriktionen und sozialer Distanzierung und davon, Verwandte und Bekannte nicht treffen zu können. Die ehrliche Antwort ist: Wir wissen nicht, was das nächste Jahr für uns bringen wird. Und wir müssen uns darauf einstellen, dass es noch mal zu einer Verschärfung kommen kann.
Sie blicken dennoch optimistisch in die Zukunft und sind der Meinung, dass in Deutschland nach der Krise ein neues Zeitalter der Aufklärung beginnen kann. Was macht Sie so optimistisch?
Entscheidend ist: Was werden wir aus dieser Krise lernen? Wie werden wir in 20 Jahren auf diese Krise zurückblicken und sagen: Das hat sich in unserer Welt wegen der Krise verändert – und das hat sich nicht verändert? Diese Krise ist in vielerlei Hinsicht ein Weckruf an uns alle, um zu realisieren, was uns wichtig ist.
Und wird das passieren?
Ich hoffe es. Eine wichtige Lehre, die wir aus dieser Krise ziehen können, ist, wie wichtig Solidarität ist. Einer der positiven Aspekte, gerade in Deutschland, ist doch, dass wir sehen, wie wichtig es ist, zusammenzustehen in schwierigen Zeiten. 90 Prozent der Deutschen sagen, dass sie Restriktionen in Kauf nehmen, wenn sie damit andere Menschen schützen – vor allem schwächere Menschen, ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen. Wir sehen, dass Länder mit hoher Solidarität besser durch die Krise kommen als andere. Ich wünsche mir, dass wir erkennen, wie wichtig es in einer Krise ist, einen starken Sozialstaat und starke staatliche Institutionen zu haben. Das zeichnet uns im Vergleich zu anderen Ländern aus. Wir haben ein hervorragendes Gesundheitssystem, zu dem alle Menschen Zugang haben. Es ist nicht wie in den USA, wo Millionen Menschen keinen Anspruch auf eine solche Versorgung besitzen. Wir haben einen Staat, der durch Kurzarbeitergeld oder Kinderboni vielen Menschen schnell und unbürokratisch helfen kann.
Sie haben von einem Weckruf gesprochen und schreiben in Ihrem Buch, die Krise habe vor allem das Gute im Menschen hervorgebracht – also etwa Empathie, Solidarität, Hilfsbereitschaft. Doch wer sich etwa hier in Berlin umsieht, der erlebt nicht nur Proteste gegen die Corona-Maßnahmen, sondern auch viel Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Sollte sich die Pandemie verschlimmern: Ist es nicht mindestens genauso wahrscheinlich, dass es künftig eher „Alle gegen alle“ heißen wird?
Nein. Davon bin ich fest überzeugt. Eine ganz wichtige Lehre nicht nur aus dieser Krise, sondern auch aus zahlreichen Katastrophen und Krisen der Vergangenheit ist, dass solidarische Gesellschaften besser durch solche Krisen kommen als Länder, die genau diesen persönlichen Egoismus in den Vordergrund gestellt haben. Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland unterschiedliche Meinungen. Wir sind eine Demokratie und das ist gut so. Die große Mehrheit der Deutschen sagt: Jetzt gilt es, zusammenzustehen und unsere individuellen Interessen zurückzustellen. Das war im vergangenen halben Jahr wirklich beeindruckend. Wenn die Krise sich verschärfen sollte oder sie noch ein Jahr dauert, kann es für viele Menschen zwar noch härter werden. Das heißt aber nicht, dass diese wesentliche Erkenntnis verschwindet: Solidarität und Gemeinschaftssinn helfen uns, diese Pandemie zu überstehen.
Kern der Aufklärung sind Begriffe wie Rationalität, Humanismus, Freiheit. Ein Blick in die USA zeigt, dass diese Fundamente der Demokratie wackeln. Kann das nicht auch in Europa passieren?
Wir haben diese Entwicklung ja schon zu Teilen in Europa gesehen. Populismus und Hinwendung zum Nationalismus gibt es nicht nur in den USA zu beobachten. Aber sehr positiv ist doch, dass diese in Europa schwächer geworden sind und eine geringere Rolle spielen. Es wird in der Krise nicht über Ausgrenzung geredet. Auch die Politik rückt enger zusammen.
Als China den Shutdown verhängte und einige andere Länder nachzogen, brachen globale Lieferketten zusammen. Ist es daher nicht doch eine gute Idee, die Globalisierung und damit die Abhängigkeit von anderen zumindest teilweise zurückzuschrauben?
Nein. Auch das ist eine zentrale Lehre der Krise, dass bei einer Pandemie nur globale Lösungen helfen. Das gilt für alle anderen großen Herausforderungen – beispielsweise Klimaschutz, Digitalisierung, Migration, globale Finanzmarktstabilität. Zu Beginn der Krise haben viele Staaten einseitig reagiert, ihre Grenzen geschlossen und Exportverbote verhängt. Aber man hat sich dann wieder darauf besonnen, dass offene Grenzen und Zusammenarbeit unverzichtbar sind. In der Krise wird uns bewusst, wie abhängig wir voneinander sind. Das zeigt sich auch am europäischen Wiederaufbauprogramm, zu dem die Bundesrepublik viel Geld beisteuert. Das ändert allerdings nichts daran, dass es Korrekturen bei der Globalisierung geben muss.
Inwiefern?
Es werden Übertreibungen zurückgefahren. Der Neoliberalismus, also der Glaube, dass der Markt alles besser wisse, wird zurückgedrängt. Aber die Globalisierung an sich wird durch diese Krise eher solider werden. Es wird nicht zu mehr Globalisierung kommen, aber die Vorteile der Globalisierung, von der wir ja auch in Deutschland profitieren, werden erhalten bleiben.
Ein zentraler Konflikt ist die Abwägung von Gesundheitsschutz gegen wirtschaftliche Interessen und Notwendigkeiten. Beschränkungen bis hin zum Lockdown sind wichtig, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und Menschen zu schützen. Zugleich haben sie für Unternehmen und Arbeitnehmer existenzbedrohende Folgen.
Bei dieser Abwägung kommt noch eine dritte Komponente hinzu: die Grundrechte. Diese Abwägung muss jede Gesellschaft für sich vornehmen. Schweden kommt zu einem anderen Ergebnis als Deutschland. Die richtige Balance hängt von der Akzeptanz der Bevölkerung ab. Und hierzulande unterstützt die große Mehrheit die Maßnahmen der Politik. Es gibt einen starken Konsens darüber, wie wir zusammenleben und miteinander umgehen wollen – wir legen viel Wert darauf, Schwächere zu schützen. Die Politik hat es geschafft, sowohl einen politischen Konsens herzustellen, als auch die Unterstützung für diesen Weg von der Bevölkerung zu bekommen. Darauf kommt es an.
Dem Staat kommt ja in der Krise eine überaus zentrale Rolle zu. Ist nicht zu befürchten, dass eine Folge der Krise ist, dem Staat zu viel Einfluss einzuräumen?
Ja, die Sorge ist da. In der Krise zeigt sich, dass der Staat nicht das Problem ist – im Gegenteil. Ein gut funktionierender Staat ist absolut essenziell. Nun darf es allerdings nicht passieren, über das Ziel hinauszuschießen. Wir brauchen eine gesunde Balance zwischen Staat und Markt. Wir dürfen die Marktwirtschaft nicht verteufeln, private Unternehmen und privates Eigentum sind essenziell für unseren Wohlstand. Wir müssen weg vom Neoliberalismus. Wir brauchen eine neue soziale Marktwirtschaft, bei der der Staat effizient ist und sich darauf konzentriert, was er gut kann.
Während einige bei den Corona-Maßnahmen die Eigenverantwortung betonen, fordern andere strengere Regeln – und vor allem mehr Kontrolle. Wo sortieren Sie sich ein?
In beide Positionen. Das eine geht nicht ohne das andere. Einige Menschen sagen, dass China die Pandemie besser bewältige als Deutschland. Wir sind jedoch eine Demokratie, in der allen Menschen nicht einfach wochenlang verboten werden kann, die Wohnung zu verlassen. Wir brauchen sinnvolle Regeln, die auf eine hohe Akzeptanz stoßen. Nur dann sind ausreichend viele Menschen bereit, die erforderliche Eigenverantwortung zu übernehmen.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de
„Die neue Aufklärung – Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise“ ist im Berlin Verlag erschienen und kostet 22 Euro.