Andreas Rettig war 30 Jahre lang in führenden Positionen im deutschen Fußball tätig – unter anderem bei Bayer Leverkusen, dem SC Freiburg, dem 1. FC Köln und dem FC Augsburg. Von 2013 bis 2015 war er Co-Geschäftsführer der DFL. Im September 2019 legte er sein Amt als kaufmännischer Geschäftsführer des FC St. Pauli nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Sein Gastbeitrag ist eine aktuelle Bestandsaufnahme der Branche
Die Liga boomt, der deutsche Profifußball hat in der Saison 2017/2018 mit 4,42 Mrd. Euro den 14. Umsatzrekord in Folge verzeichnet. Die Zuschauerzahlen der Bundesliga sind die höchsten in Europa, sie hat pro Spiel im Schnitt etwa 4500 Zuschauer mehr als die Premier League . Also alles bestens, könnte man denken, doch es gibt die ersten negativen Vorboten für ein Abflauen des Booms, allen voran ein Rückgang des Zuschauerschnitts von 2,6 Prozent zur Vorsaison. Hier ist jedoch die Zusammensetzung der Liga zu beachten, insbesondere der Abstieg der Zuschauermagneten 1. FC Köln und Hamburger SV. Mehr Anlass zur Sorge bietet die steigende Zahl der sogenannten No-Shows, also Zuschauer, die ihr Ticket verfallen lassen und so für leere Plätze sorgen. Die No-show-Rate liegt in der Bundesliga im Schnitt immerhin bei rund zehn Prozent.
Auch der Fernseh- beziehungsweise Medienmarkt sendet erste Signale der Abkühlung. So verzeichnet die Premier League etwa zehn Prozent weniger Umsatz – und das trotz 20 Prozent mehr verkaufter Spiele. Auch in Italien wurden bei den jetzigen Vertragsabschlüssen gerade noch so das vorherige Ergebnis erreicht. Als Gründe hierfür werden alternative Unterhaltungsangebote bei konstanten Zeitbudgets der Konsumenten, aber auch ein geändertes Nutzerverhalten, besonders bei jungen Menschen, genannt.
Hierbei spielt die sogenannte Generation Z – junge Menschen, die nach 1996 geboren sind (also heute 23 Jahre und jünger) – eine wichtige Rolle, da sie alle anderen Generationen zahlenmäßig überleben wird. Die Generation Z zeichnet sich laut einer Studie der WHU – Otto Beisheim School of Management durch den höchsten Konsum pro Bundesligaspieltag aus. Ebenso ist sie offen für Angebote internationaler Premiumwettbewerbe (zum Beispiel für die Premier League) und legt eine Zahlungsbereitschaft für Ergänzungsangebote an den Tag. Aber sie bevorzugt kürzere und kurzweiligere Formate – also lieber die Konferenzschaltung als durchgehende 90 Minuten eines Einzelspiels – und hat insgesamt eine geringere Aufmerksamkeit für den Fußball.
Fans gehen auf Distanz zur Bundesliga
Wie kann in dem Wissen um diese verändernden Rahmenbedingungen die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Profifußballs erhöht werden, ohne dass die historisch-kulturellen und sozialen Wurzeln des Vereinsfußballs vollends gekappt werden? Der Vereinsfußball mutiert zum Kapitalgesellschaftsfußball – nur noch eine Handvoll der aktuellen Bundesligisten ist als eingetragener Verein (e.V.) organisiert. Und in anderen europäischen Ligen wird ganz offensichtlich längst Investorenfußball gespielt. Damit wir uns nicht missverstehen: Mir liegt es fern, Investorengelder zu verteufeln. Ich freue mich über jeden Euro, der durch Investoren in die Bundesliga gebracht wird. Allerdings nur unter Berücksichtigung unserer Spielregeln. Es geht darum, die Investoren auch nicht zu glorifizieren, denn es ist immer eine Gesamtbetrachtung der Effekte ihrer Kapitaleinzahlungen vorzunehmen.
Zu bedenken ist beispielsweise, welche Wechselwirkungen durch einen Einstieg von Investoren auf Sponsoren und Werbeerlöse entstehen. Altgediente Werbepartner könnten denken, der reiche Investorenclub braucht die Werbeeinnahme doch gar nicht. Also einfach die 50+1-Regel abschaffen, ungehemmten Kapitalzufluss ermöglichen (dieses sollte in Zeiten des Anlagenotstandes kein Problem sein), schnell noch die Ticketpreise erhöhen, denn Angebot und Nachfrage bestimmen ja den Preis – und schon fließen Millionen, eher noch Milliarden, die Henkelpötte stehen wieder in deutschen Clubvitrinen und alles ist in bester Ordnung? Wozu führt aber dieses Schreien nach immer mehr Geld, oder wie es im besten Marketingsprech heißt: „Erlöspotenziale heben“. Werden dann die servierten Steaks nicht mehr mit Gold, sondern mit Platin verziert?
Die Gründe für die zunehmende Entfremdung vieler Fans vom deutschen Profifußball sind vielfältig. Die wahnwitzigen Transfersummen und Gehälter, die Eventisierung und Vermarktung rund um das Spiel rücken das eigentliche sportliche Geschehen in den Hintergrund. Die Fans und Mitglieder haben durch den Wandel von Vereinen zu Kapitalgesellschaften und der Umbenennung von regionalen und identitätsstiftenden Stadionnamen wie etwa Müngersdorf, Wedau, Dreisam oder Wildpark hin zu Firmennamen, die mehrfach innerhalb eines Jahrzehnts wechseln, nicht mehr das Gefühl, dass es ihr Verein ist. Außerdem steigen Mitgliedsbeiträge und Eintrittspreise immer weiter an.
Sollten wir nicht besser einen konzeptionellen Ansatz wählen, der der fortschreitenden emotionalen Entfremdung des gemeinen Fußballfans durch ausufernde Kommerzialisierung entgegenwirkt? Ihn wieder näher bindet, näher an seinen Club bringt?
Schauen wir kurz zurück in die Jahre 1998 bis 2000. Nach der WM in Frankreich und der EM in Belgien und den Niederlanden lag der deutsche Fußball am Boden. Der Ruf nach Veränderungen war groß. Damals haben wir den verpflichtenden Aufbau von Nachwuchsleistungszentren (NLZ) eingeführt, ich selbst hatte zwischen 2000 und 2006 den Vorsitz in der zuständigen Arbeitsgruppe. Längst nicht alle Vereine haben damals „Hurra“ geschrien, sondern auf die hohen Kosten verwiesen. Das Ergebnis nach langen Debatten war die Aufnahme von Kriterien in das Lizenzierungsverfahren. Die Clubs mussten verpflichtend qualifiziertes Personal einstellen und in die Infrastruktur investieren. Wer diese Vorgaben nicht erfüllte, durfte nicht mehr in der Bundesliga mitspielen.
Heute haben uns einige der anderen Top-5-Nationen sowohl sportlich als auch finanziell eingeholt oder teilweise auch überholt. Welche anderen Wettbewerbsvorteile könnten wir nun als Bundesliga in die Waagschale werfen? Deutschland als größte Wirtschaftsnation Europas und viertgrößte der Welt sollte in der Lage sein, den Fußballstandort in seiner Gesamtheit attraktiver zu gestalten. Ziel muss es sein, dass wir global agierende Unternehmen mit ihren üppigen Werbebudgets für den deutschen Profifußball begeistern. Ähnlich übrigens wie der FC St. Pauli es schafft, durch authentische und klare Markenführung – trotz fehlender Stars und leider auch fehlender sportlicher Erfolge – attraktiver für Fans, Partner und Sponsoren zu werden.
„Play in Germany“ muss zum Gütesiegel werden
Es sollte unter der Führung von DFB und DFL gelingen, wenn man es denn möchte, eine neue DNA des deutschen Profußballs zu schaffen, die sich von den nahezu ausschließlich umsatzgetriebenen Investorenligen abhebt. Anstatt „Made in Germany“ muss „Play in Germany“ Lockruf und Gütesiegel werden. Die Spieler und deren Berater müssen die Besonderheit dieser Liga so hoch einschätzen, dass sie sich einen Imagegewinn von ihrer Zeit in Deutschland versprechen. Dazu gehört im Übrigen auch ein politisches Umfeld und Klima, in dem sich ein internationaler Spieler – egal auf welcher Spielklassenebene – wohlfühlt. Hier stehen offensichtlich nicht alle Parteien für eine ausgeprägte Willkommenskultur. Was wir im Übrigen von einer allein auf dem freien Spiel des Marktgeschehens basierenden Wirtschaftsordnung halten können, hat uns die Weltwirtschaftskrise 2008 nach der Lehman-Pleite gezeigt.
Der deutsche Fußball sollte den Anspruch formulieren, die nachhaltigste, sozialste und bodenständigste Liga zu werden. Er sollte sich aber nicht nur durch Lippenbekenntnisse, sondern vielmehr durch Investitionen und Selbstverpflichtungen glaubwürdig dazu bekennen. In einer Zeit, in der Kinder und Jugendliche auf die Straße gehen, um sich für ökologische und soziale Themen zu engagieren, zahlt diese DNA nicht nur auf eine Verbesserung der Lebensumstände in unserem Lande ein, sondern erreicht – quasi nebenher – auch die stark umworbene Zielgruppe der Generation Z. Global agierende Konzerne müssen bereits heute – genauso wie die als Kapitalgesellschaften firmierenden Clubs – aufgrund gesetzlicher Vorgaben bestimmte Kriterien durch die Erstellung nicht-finanzieller Berichte erfüllen. Dies wird zukünftig nicht nur für diese Konzerne, sondern auch für unsere Proficlubs anspruchsvoller werden.
Eine verantwortungsbewusste und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Unternehmenskultur ist auch im internationalen Wettstreit um qualifizierte Arbeitskräfte ein Faustpfand. Unternehmen werden dort investieren, wo sie den größten Nutzen sehen und sich einen positiven Imagetransfer versprechen. Warum sollte die Bundesliga nicht einen autofreien Spieltag einführen, verpflichtend Elektroladestationen und bewährte Fahrradgarderoben anbieten, wie es sie beispielsweise auf St. Pauli bereits seit Jahren gibt? Oder ein Gesamtkonzept für die rund 18 Millionen Stadiongänger pro Jahr im Hinblick auf eine emissionsärmere An- und Abreise zu schaffen?
Mehr TV-Gelder für Nachhaltigkeit
Wie können wir mit den Bergen von Lebensmitteln, die in den Stadien für zehntausende VIP- und Logenpartner im Überfluss bereitgestellt werden und oftmals danach vernichtet werden, nachhaltiger und sozialer umgehen? Müssen wir das Flutlicht tagsüber stundenlang brennen lassen, damit die Übertragungsqualität ein klein wenig besser wird? Können wir nicht Anreize (beispielsweise finanzieller Art aus den Medienerlösen) für nachhaltige Konzepte im Hinblick auf Energiegewinnung oder Regenwassernutzung schaffen? Welche Möglichkeiten haben wir bei der nachhaltigen Herstellung von Fanartikeln? Sollten wir hier nicht auch einmal die Marge zugunsten der Ressource überdenken? Passend dazu wurde von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller gerade der grüne Knopf als neues staatliches Textilsiegel vorgestellt.
Eine Branche oder ein Standort mitsamt seinen Akteuren, die ein verantwortungsbewusstes, der Gesellschaft dienendes Engagement an den Tag legen, wird auf mittlere Sicht auch ökonomische Vorteile daraus erzielen können. Der deutsche Fußball sollte deshalb für sich die Frage beantworten: Was können die Vereine und Verbände tun, um ihre Popularität und Reichweite für die Gesellschaft zu nutzen statt ausschließlich auf das Erschließen neuer Erlöspotenziale zu schielen? Der Profifußball steht mitten in der Gesellschaft. Daraus ergibt sich eine große Kraft, die er zukunftsgewandt einsetzen sollte. Wir dürfen Ökologie und Ökonomie nicht gegeneinander ausspielen, sie sollten auch im Profifußball gleichberechtigt verfolgt werden.