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Bilanzbetrug Das „Project Panther“ - und die letzten Monate von Wirecard

Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München: Der Konzern war über Jahre eine Goldgrube für Berater aller Art
Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München: Der Konzern war über Jahre eine Goldgrube für Berater aller Art
© IMAGO / Future Image
Führungskräfte des inzwischen insolventen Zahlungsdienstleisters Wirecard heckten einen Plan zum Kauf der Deutschen Bank aus. Doch der Bilanzbetrug ließ sich nicht mehr vertuschen, wie eine Rekonstruktion der letzten Monate vor der Pleite zeigt

„Project Panther“ lautete der Codename. Markus Braun, der Vorstandsvorsitzende des deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard, hatte McKinsey & Co. mit der Vorbereitung seiner bis zu diesem Zeitpunkt kühnsten Idee beauftragt: den Plan zur Übernahme der Deutschen Bank .

In einer 40-seitigen Präsentation vom November 2019 unterstrichen die Berater, dass die neue Einheit, die den Namen „Wirebank“ tragen sollte, „wie eine Fintech-Bank in der Größenordnung einer globalen Bank denken und handeln“ sollte. Bis 2025 könne sie 6 Mrd. Euro Gewinn zusätzlich erwirtschaften, behauptete McKinsey.

Während die größte deutsche Bank auf Vermögenswerten in Höhe von 1,4 Billionen Euro saß, war sie an der Börse gerade einmal 14 Mrd. Euro wert, etwa so viel wie Wirecard damals. Der McKinsey-Bericht verhieß eine Verdoppelung der gemeinsamen Börsenbewertung auf knapp 50 Mrd. Euro.

Ein Deal zur Übernahme der Deutschen Bank wäre die Krönung für ein Unternehmen gewesen, das innerhalb weniger Jahre zu einem der wertvollsten des Landes geworden war – versehen mit dem Prädikat „Deutschlands Paypal“. Ein aufstrebendes Fintech-Unternehmen würde die berühmteste Bank des Landes führen.

Ex-Wirecard-Chef Markus Braun (l.) muss an diesem Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags aussagen
Ex-Wirecard-Chef Markus Braun im Gespräch mit Deutsche-Bank-CEO Christian Sewing (Foto: Getty Images)
© Getty Images

Eine Verbindung mit der Deutschen Bank versprach noch einen weiteren potenziellen Effekt: Ein Deal bot die Aussicht auf einen wundersamen Ausweg aus den großangelegten Betrügereien, die Wirecard betrieben hatte. Rund 1,9 Mrd. Euro Bargeld fehlten auf den Konten des Unternehmens, und große Teile Asiengeschäfts waren in Wirklichkeit ein ausgeklügelter Schwindel. Durch die Einbettung des Wirecard-Geschäfts in die riesige Bilanz der Deutschen Bank wäre es möglich gewesen, das fehlende Geld irgendwie zu verstecken und es später in den Wertminderungsaufwendungen nach der Fusion zu erklären.

Es gab jedoch einen Haken. Um einen solchen Deal überhaupt ernsthaft vorzubereiten, musste das Unternehmen ein einwandfreies Testat der Wirtschaftsprüfer von KPMG erhalten, die eine Sonderprüfung der Wirecard-Bücher durchführten.

Dieses Testat von KPMG kam nie.

Sechs Monate später fiel der Vorhang für Wirecard. Am 25. Juni stürzte das Unternehmen in die Insolvenz , nachdem es als eines der größten deutschen Bilanzbetrüger der Nachkriegszeit entlarvt worden war. Die Staatsanwaltschaft in München vermutet, dass 3,2 Mrd. Euro an seit dem Jahr 2015 aufgenommenen Schulden „verloren“ gegangen sind. Rund 1 Mrd. Euro wurden als ungesicherte Kredite an undurchsichtige Geschäftspartner in Asien vergeben.

Braun, der den Vorwurf des Betrugs und der Veruntreuung bestreitet, und drei weitere ehemalige Spitzenmanager befinden sich in Haft. Jan Marsalek, die ehemalige Nummer zwei von Wirecard, ist auf der Flucht, und der Chef eines wichtigen Wirecard-Geschäftspartners auf den Philippinen wurde für tot erklärt.

Die Financial Times sprach mit mehr als einem Dutzend Betroffener und prüfte Hunderte von Seiten interner Dokumente, um die letzten Monate vor dem Zusammenbruch von Wirecard zu rekonstruieren. Sie offenbaren ein bis zum Schluss anhaltendes verzweifeltes Bemühen von München bis Manila, den Betrug zu vertuschen und die Wirtschaftsprüfer des Unternehmens zu täuschen.

„Die Unverfrorenheit von Marsalek [und anderen], die ständig nach Strich und Faden gelogen haben, ist einfach umwerfend“, sagt eine Person, die in einer leitenden Position in der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München eng mit ihnen zusammenarbeitete.

Audit-Argumente

Die Krise des Unternehmens begann mit einer FT-Geschichte vom 15. Oktober 2019 - die jüngste in einer Reihe von Nachforschungen über die Konten des Unternehmens. In dem Artikel wurde erklärt, wie Wirecard offenbar in betrügerischer Weise Umsatz und Gewinn in die Höhe trieb. Die Wirecard-Aktie stürzte ab, aber ein entspannt wirkender Vorstandschef Braun wischte die Vorwürfe beiseite. Drei Tage später kündigte das Unternehmen einen Aktienrückkauf in Höhe von 200 Mio. Euro an.

Hinter verschlossenen Türen brach bei Wirecard jedoch eine hitzige Debatte aus. Der frühere Finanzchef der Deutschen Börse Thomas Eichelmann, der im Juni 2019 in den Wirecard-Aufsichtsrat eingetreten war, drängte auf eine unabhängige Prüfung der Vorwürfe, so zwei Personen, die mit den Diskussionen vertraut waren. Der Vorschlag wurde von der Softbank unterstützt, die einige Monate zuvor 900 Mio. Euro in Wirecard investiert hatte.

Der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens Wulf Matthias zeigte sich zutiefst skeptisch. Nur wenige Tage vor der Auftragsvergabe an KPMG sagte er der FT, die Vorwürfe seien „ein Ärgernis“ und argumentierte, eine Sonderprüfung sei unnötig, da Wirecards Wirtschaftsprüfer EY „die Angelegenheit ausreichend bewertet“ habe.

Braun, dessen 7-Prozent-Beteiligung an Wirecard zu diesem Zeitpunkt mehr als 1 Mrd. Euro wert war, sprach sich ebenfalls gegen die Prüfidee aus. Doch der Druck von Softbank und Aufsichtsrat ließen ihn schließlich einlenken. „Wir sagten ihm, dass er die Prüfung brauche, um sich und sein Geld zu schützen“, sagt eine Person, die an den Diskussionen beteiligt war.

Im November begannen 40 KPMG-Wirtschaftsprüfer damit, in den Büchern von Wirecard zu wühlen. Man versprach ihnen Zugang zu allen Daten, die sie benötigten, und Wirecard verpflichtete sich, das Ergebnis zu veröffentlichen.

Nach Ex-Vorstand Jan Marsalek wird international gefahndet
Nach Ex-Vorstand Jan Marsalek wird international gefahndet (Foto: imago images / teutopress)

Innerhalb weniger Tage wurde KPMG klar, dass die Kerngeschäfte der Wirecard-Zahlungsabwicklung in Europa kein Geld einbringen - eine Tatsache, die Wirecard den Investoren gegenüber nie offenbart hatte. Der gesamte Gewinn wurde durch die von Marsalek beaufsichtigten Operationen erwirtschaftet: Das Asien-Geschäft von Wirecard, wo die Verarbeitung von Transaktionen an dritte Geschäftspartner ausgelagert wurde.

Im Januar bekam Wirecard einen neuen Aufsichtsratsvorsitzenden: Thomas Eichelmann löste den 75-jährigen Matthias ab, der mehr als ein Jahrzehnt an der Spitze des Kontrollgremiums gestanden hatte.

Eichelmann äußerte sich vernichtend über die willkürlichen internen Strukturen von Wirecard. „Auch wenn ich nur eine Pommesbude führen würde, würde ich es anders machen“, sagte er einem Vertrauten.

Der neue Vorsitzende des Kontrollgremiums glaubte jedoch nicht an eine Verwicklung Wirecards in Betrugsfälle, zum Teil wegen der starken Bargeld-Generierung der Gruppe. Nach Aussage einer mit seinen Ansichten vertrauten Person war er überzeugt, dass es „extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, Geldströme zu fälschen“.

Fantasiekonten

Während die KPMG-Untersuchung in vollem Gange war, hätten die hinter dem Betrug stehenden Wirecard-Führungskräfte im „Project Panther“ und einem Deal mit der Deutschen Bank, über den zuerst Bloomberg berichtete, einen möglichen Weg gesehen, die Entdeckung zu verhindern, sagt ein Berater der Zahlungsgruppe, der an den Diskussionen beteiligt war. Aber sie arbeiteten auch an einem separaten Plan: einer riesigen Vertuschungsaktion in Asien.

Sie mussten das schwächste Glied beseitigen - und zwar schnell. Jahrelang hatte Wirecard seinem Wirtschaftsprüfer EY mitgeteilt, dass große Summen an Firmengeldern auf Treuhandkonten eines Treuhänders bei Singapurs zweitgrößter Bank, der OCBC, eingezahlt worden seien.

Doch diese Konten existierten, wie sich herausstellte, nur in der Fantasie. Dennoch hatte sich EY jahrelang mit Saldenbestätigungen begnügt, die im Namen des Treuhänders ausgestellt worden waren, einer Firma namens Citadelle. Deren Direktor R. Shanmugaratnam wurde diesen Monat wegen Fälschung von Konten in Singapur angeklagt.

Sven-Olaf Leitz und Alexander Geschonneck, zwei altgediente KPMG-Partner, die die Sonderprüfung durchführten, teilten Braun und anderen leitenden Angestellten von Wirecard mit, dass die Dokumente zu den Treuhandkonten nicht ausreichend seien. Sie bestanden darauf, Originaldokumente einzusehen, die idealerweise direkt vom OCBC kommen sollten.

KPMG wurde mit der Sonderprüfung beauftragt
KPMG wurde mit der Sonderprüfung beauftragt (Foto: imago images / Marcel Lorenz)
© Marcel Lorenz / IMAGO

Es dauerte fast zwei Monate, bis Marsalek eine scheinbare Lösung präsentierte. Der zweite Mann bei Wirecard informierte die Rechnungsprüfer, dass das Unternehmen die Bankkonten zu einem neuen Treuhänder mit Sitz auf den Philippinen verlegt habe. Citadelle, so Marsalek, habe die Geschäftsbeziehung Ende 2019 abrupt beendet und reagiere nicht mehr auf Anfragen von Wirecard.

Marsalek zufolge war der in Manila ansässige Anwalt Mark Tolentino als Ersatz für Citadelle eingesprungen. Wirecard hatte daraufhin Anfang Dezember 1,9 Mrd. Euro in bar von der OCBC auf Treuhandkonten im Namen von Mark Tolentino bei zwei Banken auf den Philippinen, BDO und BPI, überwiesen.

KPMG bat erneut um Unterlagen - und machte eine überraschende Entdeckung. Bis Februar - zwei Monate, nachdem das Geld angeblich auf Tolentinos Konten eingezahlt worden war - stand Wirecard immer noch in keiner vertraglichen Beziehung zu dem neuen Treuhänder, noch war sein Background überprüft worden. Wirecard-Finanzvorstand Alexander von Knoop erfuhr erst Ende Januar von der Transaktion.

Mitte Februar schienen sich die Aussichten für Wirecard zu verbessern. Das Unternehmen gewann die Unterstützung von zwei der größten deutschen Vermögensverwalter: DWS und Union Investment. Und der Aktienkurs war wieder auf dem Niveau angelangt, auf dem er sich vor dem FT-Bericht im Oktober befunden hatte.

Die am 14. Februar veröffentlichten vorläufigen Ergebnisse für das Gesamtjahr bestätigten die Optimisten. Wieder einmal übertraf Wirecard die Erwartungen der Analysten und Braun gab eine optimistische Prognose ab. Als das Coronavirus einige Wochen später ausbrach, war Wirecard eines der wenigen Unternehmen weltweit, das behauptete, seine Gesamtjahresergebnisse würden davon nicht beeinflusst.

Treffen in Manila

Einige Führungkräfte begannen sich unwohl zu fühlen. „Ich hoffe wirklich, dass Jan [Marsalek] liefern wird“, sagte Chief Product Officer Susanne Steidl, die das Geschäft außerhalb Asiens betreute, gegenüber einer Vertrauensperson und fügte hinzu, dass die Operationen in ihrem Verantwortungsbereich schlecht liefen.

Aber Marsalek war anderweitig beschäftigt. Er musste KPMG und EY - letztere prüfte die Ergebnisse für 2019 - irgendwie davon überzeugen, dass das Asien-Geschäft von Wirecard real existierte.

Marsalek arrangierte eine Reihe von Treffen in Manila am 4. und 5. März, bei denen er leitende Mitarbeiter von KPMG und EY dem neuen Treuhänder Tolentino vorstellte, wie aus Dokumenten hervorgeht, die die FT eingesehen hat. Er begleitete KPMG und EY auch zu Niederlassungen von BDO und BPI, wo Mitarbeiter Kontoauszüge übergaben. Tolentino, der in mehreren Prüfungsdokumenten von KPMG und EY genannt wird, bestreitet jegliches Fehlverhalten und sagt, er sei hereingelegt worden. „Ich bin kein Treuhänder von Wirecard“, sagte er der FT. „Ich habe nie irgendein Dokument mit Wirecard unterzeichnet. Sie haben Identitätsdiebstahl begangen.“

Bei der BDO Unibank in Manila soll ein Teil des verschwundenen Geldes gewesen sein. Die Bank bestreitet das.
Bei der BDO Unibank in Manila soll ein Teil des verschwundenen Geldes gewesen sein. Die Bank bestreitet das. (Foto: Getty Images)
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Einen Tag später trafen Marsalek und die KPMG-Mitarbeiter Christopher Bauer, den Chef eines wichtigen in Manila ansässigen Wirecard-Geschäftspartners, der einige Monate später für tot erklärt wurde. Bauer leitete PayEasy, das „risikoreiche Transaktionen“ für Wirecard abwickelte - hauptsächlich Zahlungen für Pornographie, Wetten und Glücksspiele. Auf dem Papier erwirtschaftete PayEasy im Jahr 2018 mehr als ein Fünftel des Betriebsgewinns von Wirecard.

KPMG war immer noch nicht überzeugt. Monatelang wurden Anfragen für Treffen mit Schlüsselfiguren anderer Wirecard-Partner in Dubai und Singapur blockiert. Genaue Transaktionsdaten der Outsourcing-Partner lagen nicht vor, und aus Bankunterlagen von den Philippinen ging nicht hervor, dass das Geld im Namen von Wirecard verwahrt wurde. Anfang März teilte KPMG Wirecard mit, dass sie laut einer von der FT gesehenen E-Mail kurz davor stünden, die Sonderprüfung abzubrechen, da sie auf ein unüberwindbares „Hindernis für die Untersuchung“ gestoßen seien. In dem verzweifelten Bestreben, ein solch katastrophales Ergebnis zu vermeiden, verlängerte der Aufsichtsrat das Mandat von KPMG.

Eine Stunde vor Mitternacht am 12. März - als die Panik über das Coronavirus die Märkte überwältigte - wurde eine Verzögerung des KPMG-Berichts bis zum 22. April öffentlich bekannt gegeben.

Der erste Entwurf des KPMG-Berichts wurde den Mitgliedern des Aufsichtsrates am Abend des 19. April per Kurierdienst in Papierform mit individuellen Wasserzeichen persönlich übergeben. Es handelte sich um ein schonungsloses Dokument, in dem die Strategie des Managements hinsichtlich Verzögerungen und Behinderungen sowie die vielen Ungereimtheiten und offenen Fragen zur Existenz des Asien-Geschäfts von Wirecard ausführlich beschrieben wurden.

Leitz und Geschonneck von KPMG erläuterten Mängel in den internen Kontroll- und Compliance-Funktionen von Wirecard und äußerten ernste Zweifel an den Buchhaltungspraktiken des Unternehmens. „Der erste Entwurf war sogar noch verheerender als die Version, die schließlich veröffentlicht wurde“, sagt eine Person, die mit den verschiedenen Versionen des Entwurfs vertraut ist.

Der Wirecard-Aufsichtsrat diskutierte kurz, ob Braun, Marsalek und von Knoop entlassen werden sollten, aber nur die Leiterin des Risiko- und Compliance-Ausschusses Anastassia Lauterbach war dafür, so zwei Personen, die mit den internen Diskussionen vertraut sind. Schließlich bat der Vorstand die Rechnungsprüfer um eine weitere Verlängerung. Die zweite Verzögerung wurde am späten Abend des 22. April, dem Tag, an dem der Bericht veröffentlicht werden sollte, bekannt gegeben. „Es wurden keine Beweise für die öffentlich erhobenen Vorwürfe der Bilanzmanipulation gefunden“, erklärte Wirecard.

Das war eine dreiste Verzerrung der Gespräche mit KPMG. Einige Mitglieder des Aufsichtsrates waren schockiert - eines zog sogar einen sofortigen Rücktritt in Erwägung.

Während KPMG verzweifelt an der Endfassung seines Berichts arbeitete, verschärfte EY seine Prüfung der philippinischen Bankkonten von Wirecard. Da die Wirtschaftsprüfer aufgrund der Pandemie nicht reisen konnten, hielten sie am 24. April eine Videokonferenz mit den beiden Banken auf den Philippinen ab.

Die Prüfer forderten die Bankangestellten auf, ihre Ausweise vor die Kamera zu halten. Während der Anruf lief, versuchte EY, die Identitäten zu überprüfen, konnte aber keine der Personen in den sozialen Medien finden. Einige leitende EY-Mitarbeiter vermuten nun, dass Schauspieler sich während des Videoanrufs als Bankangestellte ausgegeben haben könnten, möglicherweise in einer nachgebauten Bankfiliale.

Die endgültige Version des KPMG-Berichts wurde Wirecard am 27. April zugestellt. Die brisantesten Details verbargen sich in einem vertraulichen Anhang, der dreimal so viele Seiten umfasste wie der veröffentlichte Bericht. Aber selbst die Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, die für die Veröffentlichung vorgesehen war, fiel schon verheerend genug aus. Darin wurde klar beschrieben, dass KPMG weder die Existenz des ausgelagerteten Geschäfts noch das Bargeld auf den Treuhandkonten überprüft hatte. Außerdem wurde die hartnäckige Obstruktion durch Wirecard und seine Geschäftspartner geschildert.

Aufsichtsrat und Vorstand von Wirecard diskutierten die ganze Nacht über das weitere Vorgehen. Marsalek argumentierte, dass das Unternehmen einfach davon Abstand nehmen sollte, den Bericht zu veröffentlichen, sagt jemand, der bei den Treffen anwesend war. Aber selbst Braun wies diesen Vorschlag zurück. Schließlich beschloss Wirecard, sich auf die scheinbar positive Nachricht zu konzentrieren - dass KPMG keine Beweise für offenen Betrug gefunden habe und keine Neufeststellung der Konten fordere.

Bei einem Gespräch mit Journalisten am 28. April bezeichnete Braun den KPMG-Bericht als „großen Schritt nach vorn“. Später am Tag sagte er den Analysten: „EY hat uns heute Morgen informiert, dass sie überhaupt kein Problem haben, die Prüfung 2019 zu unterzeichnen.“

Bürogebäude von EY Deutschland: Im Wirecard-Skandal muss sich das Big-Four-Unternehmen gegen eine Klagewelle wehren
EY gehört zu den sogenannten „Big Four“, den vier größten Wirtschaftsprüfern (Foto: imago images /Arnulf Hettrich)
© Arnulf Hettrich / IMAGO

Tatsächlich war auch EY zunehmend skeptisch geworden. Die Prüfer verlangten nun, dass Wirecard 440 Mio. Euro in vier Tranchen von den philippinischen Bankkonten nach Deutschland überweisen sollte, als Beweis dafür, dass das Unternehmen wirklich in der Lage war, auf das Geld zuzugreifen.

Das Wirecard-Management erklärte, dass dies kein Problem sei. Braun und Marsalek versicherten bei mehreren Gelegenheiten, dass die 440 Mio. Euro aus den Philippinen in Kürze eintreffen würden. Ausgehend von der Annahme, dass dies zutreffend sei, bereitete sich EY darauf vor, den Wirecard-Konten für 2019 ein reines Testat zu bescheinigen. Am 2. Juni legte EY Wirecard den Entwurf eines „all clear“ Prüfungsvermerks vor.

Schließlich beschloss EY jedoch, sich direkt an die philippinischen Banken zu wenden, um die Echtheit der Dokumente zur Bestätigung der 1,9 Mrd. Euro zu überprüfen. Die Banken reagierten nicht sofort und wurden erst tätig, nachdem ein leitender EY-Mitarbeiter unter vier Augen mit ihren Geschäftsführern gesprochen hatte.

Am 16. Juni erhielt EY Deutschland eine E-Mail direkt von BPI, die sich als entscheidend herausstellte. „Bitte seien Sie informiert, dass die beigefügten Dokumente gefälscht sind“, schrieb die Rechtsabteilung von BPI. „Daher kann die Bank keine diesbezüglichen Informationen zur Verfügung stellen.“

EY informierte die deutsche Finanzaufsichtsbehörde Bafin über den BPI-Brief am 16. Juni um 17.28 Uhr, laut einem Dokument, das die FT einsehen konnte. Ein ähnlicher Brief von BDO folgte einen Tag später.

In der Wirecard-Zentrale waren die meisten Mitarbeiter schockiert. „Als der erste Brief [von den philippinischen Banken] eintraf, begannen alle das Wort 'unecht' zu googeln und waren dann völlig ungläubig“, erinnert sich eine Person mit Wissen aus erster Hand. Zwei Männer waren jedoch völlig ruhig und entspannt: Braun und Marsalek. „Es handelt sich um ein großes Missverständnis, das bald ausgeräumt sein wird“, sagte der CEO mehrmals.

Am Morgen des 18. Juni waren die 440 Mio. Euro von den Philippinen immer noch nicht eingetroffen. „Alles ist möglich. Wir schwanken zwischen Katastrophe und alles ist gut“, schrieb Marsalek um 9.03 Uhr an eine Vertrauensperson, wie aus einem von der FT gesehenen Schriftwechsel hervorgeht. Er fügte hinzu: „Wir warten auf den Input einer Bank. Wenn wir sie erhalten, wird alles in Ordnung sein. Wenn nicht, wird EY völlig durchdrehen.“

James Freis, der am 1. Juli als neuer Chief Compliance Officer zu Wirecard kommen sollte, war am Morgen des 18. Juni auf Wohnungssuche in der Münchner Innenstadt, als er einen Anruf von Eichelmann erhielt, der ihn anflehte, sofort an einer Krisensitzung des Aufsichtsrates teilzunehmen. „Wir befinden uns im Krisenmodus“, teilte der Vorsitzende Freis mit.

Während die beiden Frauen im Aufsichtsrat die sofortige Entlassung Brauns forderten, sahen das ihre drei männlichen Kollegen anders, sagen zwei Personen, die mit den Diskussionen vertraut sind. Der Aufsichtsrat fand nicht einmal eine Mehrheit, um Marsalek zu entlassen - in der Folge wurde er für die nächsten zwölf Tage vorübergehend suspendiert.

Marsalek zog sich in das Büro Brauns zurück, wo beide eine lange Diskussion hinter verschlossenen Türen führten. „Es sah nach einem sehr intensiven Gespräch aus“, erinnert sich ein Insider, der Brauns Büro betrat, um sich sofort wieder zurückzuziehen, als er sah, was vor sich ging. Äußerlich war Marsalek unbeeindruckt - die Mitarbeiter sahen ihn pfeifend durch die Chefetage von Wirecard schlendern.

Braun und der Rest des Vorstands nahmen daraufhin eine Videobotschaft auf. Der Vorstandsvorsitzende stellte kurz Freis vor, der sich für den Auftritt eine Jacke ausleihen musste. Braun ist zu sehen, wie er hinter einem Schreibtisch steht und eine kurze Nachricht an Investoren vorliest, in der er versucht, Wirecard - und sich selbst - als Opfer darzustellen. „Es ist derzeit nicht auszuschließen, dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist“, sagte er. Die fehlenden 1,9 Mrd. Euro erwähnte er nicht.

Als das Video nach Mitternacht auf der Wirecard-Website veröffentlicht wurde, brütete Freis über internen Dokumenten. In der Nacht kam er zu dem Schluss, dass es einen Betrug gegeben habe. Am nächsten Morgen bat er um ein Treffen, um Eichelmann zu informieren.

Der Aufsichtsrat trat erneut zusammen und kam zu dem Ergebnis, dass der Vorstandschef gehen müsse. Braun hatte seiner Entlassung mit der Ankündigung seines Rücktritts vorgegriffen - sein Traum von der Übernahme der Deutschen Bank hatte sich zu einem Albtraum entwickelt. Zwei Wirecard-Mitarbeiter begleiteten ihn aus dem Gebäude. Nicht einmal eine Woche später meldete das Unternehmen Insolvenz an.

Copyright The Financial Times Limited 2020

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