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Kolumne Der russische Janus

Als Land mit zwei Gesichtern stellt sich Russland dar - mal bedrohlich, mal freundlich. Mit seinem Syrien-Vorstoß hat Präsident Putin den Westen vorerst vor einer Torheit bewahrt. Von Robert Skidelsky
Russlands Präsident Putin: Herrscher eines fehlentwickelten Landes
Russlands Präsident Putin: Herrscher eines fehlentwickelten Landes
© Getty Images

Russland präsentiert der Welt zwei gegensätzliche Gesichter: eins ist bedrohlich, das andere freundlich. Etwas überraschend haben sich nun beide übereinander geschoben und die Dynamik durchbrochen, mit der die Vereinigten Staaten und womöglich andere Westmächte auf eine verheerende militärische Intervention in Syrien zusteuern.

Die innerrussische Situation ist nach wie vor beklagenswert. Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft im Jahr 1991 hat sich Russland weniger als ein entwickeltes, denn als ein fehlentwickeltes Land erwiesen, das nicht in der Lage ist, die meisten seiner Produkte auf dem freien Markt zu verkaufen.

Also entwickelte sich Russland in eine rohstoffbasierte Volkswirtschaft zurück, die hauptsächlich Energie verkauft, während sich seine talentierten Wissenschaftler und Techniker Arbeitsplätze im Ausland suchten und das intellektuelle Leben verfiel. Zudem ist Russland - wenig überraschend - von Korruption geplagt, was ausländische Investitionen abschreckt und das Land jedes Jahr Milliarden von Dollar kostet.

Merkmale einer Kleptokratie

Diese grundlegende Schwäche ist durch hohe Energiepreise verschleiert worden, die es Russland im Verlauf der 14 Jahre währenden Herrschaft von Präsident Wladimir Putin ermöglicht haben, die Merkmale einer Kleptokratie mit einem Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens zu verbinden, das hoch genug ist, um Widerstand zu unterdrücken und eine kaufwütige Mittelschicht hervorzubringen. Die angehäuften Reserven aus der Erdöl- und Erdgasindustrie können für die Entwicklung dringend benötigter Infrastruktur eingesetzt werden. Doch obwohl der Kreml ständig von Diversifizierung spricht, bleibt Russland eine Volkswirtschaft mit einem eher lateinamerikanischen als westlichen Profil.

Robert Skildelsky
Robert Skidelsky, Mitglied des britischen House of Lords, ist emeritierter Professor für Wirtschaftspolitik an der Warwick University
© Getty Images

Die russische Politik ist ebenfalls entmutigend. Wenn die westliche Außenpolitik ein Leitprinzip hat, dann die Förderung der Menschenrechte. Die Innen- und Außenpolitik der russischen Regierung bleibt davon völlig unbeeinflusst. Stattdessen hat Putin unter dem Credo einer „gelenkten Demokratie“ eine weiche Diktatur etabliert, in der das Gesetz schamlos für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Und wenn das Gesetzt nicht ausreicht, greift der Staat auf Attentate zurück.

Was Menschenrechte betrifft, denen in der westlichen Welt der Gegenwart besondere Bedeutung beigemessen wird – denen von Dissidenten und Minderheiten, einschließlich sexueller Minderheiten – scheint Russland auf einer vollkommen anderen Wellenlänge zu liegen. Unabhängige Nichtregierungsorganisationen werden schikaniert und als „ausländische Agenten“ tituliert. Putin hat bei den reaktionärsten Kräften Russlands gepunktet, indem er die Rechte Homosexueller mit Gesetzen einschränkt, die westliche Länder vor Jahren abgeschafft haben.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Die Entscheidung, den Oppositionsführer Alexej Nawalny für die unlängst erfolgte Wahl des Bürgermeisters in Moskau kandidieren zu lassen, war ein willkommener Schritt hin zu einem offeneren System. Das politische Kalkül, das dahinter steckte und die Wahrscheinlichkeit einer Wahlmanipulation zur Verhinderung einer Stichwahl zwischen ihm und seinem siegreichen Gegenkandidaten, deuten in punkto Demokratie allerdings kaum auf eine Wandlung vom Saulus zum Paulus hin. Das Putin-Regime besetzt einen Raum zwischen Diktatur und Demokratie, für den die westliche Politikwissenschaft noch keine passende Bezeichnung gefunden hat.

Aber vielleicht ist Russlands Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechten eine Quelle der Kraft und nicht der Schwäche. Das Problem der Menschenrechtsagenda ist, dass ihre Fürsprecher kriegslüstern werden, wohingegen die russische Außenpolitik die Tugend besonnener Klugheit an den Tag legt. Ihr Realismus, der von China geteilt wird, ist somit ein wichtiges Gegengewicht zum übermäßigen Drang der westlichen Länder, sich in die inneren Angelegenheiten von Ländern einzumischen, die den von ihnen proklamierten Wertmaßstäben nicht gerecht werden.

Der Fall Syrien ist ein gutes Beispiel hierfür. Es besteht kein Zweifel, dass Chemiewaffen eingesetzt wurden, um am 21. August in den Vororten von Damaskus Hunderte von Zivilisten zu ermorden. Eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts muss erst noch erfolgen – was vielleicht nie passieren wird. Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass das Regime von Präsident Baschar al-Assad das Nervengas Sarin eingesetzt hat.

„Provokation“ der Assad-Gegner?

In einem unlängst erschienenen Kommentar hat Putin jedoch eine Frage aufgeworfen, die sich andere sicher auch schon gestellt haben: Welche Beweggründe hatte das Regime, unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit Chemiewaffen einzusetzen? Putin hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Giftgasangriff um eine „Provokation“ der Assad-Gegner gehandelt haben könnte. Ich behaupte nicht, die Antwort zu kennen; aber das Motiv mutmaßlicher Täter ist, wie bei jeder strafrechtlichen Ermittlung, immer der richtige Ansatzpunkt. Wer konnte den Nutzen davontragen?

Es ist richtig, dass Russen zu Verschwörungstheorien neigen, ein weitverbreitetes Phänomen in Ländern mit einer undurchsichtigen Machtstruktur. Ebenfalls richtig ist aber auch, dass der Staat Syrien, anders als Ägypten unter dem ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak, nicht zentralistisch auf den Präsidenten konzentriert ist. Selbst wenn Putins These einer „Provokation“ verworfen wird, ist es möglich, dass die Chemiewaffenattacke das Werk abtrünniger Truppenteile der syrischen Armee waren, deren Schuld Assad abstreiten musste, um seine eigene Position zu sichern.

Putin könnte natürlich wissen, wovon er spricht. Viele Russen glauben, dass die Sprengstoffanschläge auf russische Wohnhäuser im September 1999, bei denen fast 300 Menschen ums Leben kamen, von Angehörigen des russischen Geheimdienstes geplant wurden, um Vergeltungsmaßnahmen gegen Tschetschenen heraufzubeschwören und Putin auf dem Rücken eines von allgemeiner Empörung getragenen Krieges in das Präsidentenamt zu katapultieren. Bis zum heutigen Tag ist ungeklärt, wer hinter den Anschlägen steckt.

Vor Torheit bewahrt

Tatsache ist, dass in so undurchsichtig politischen Systemen wie dem syrischen – und dem russischen – niemand weiß, wer wirklich was kontrolliert. Es ist somit kaum zu glauben, dass die politischen Nachfolger derjenigen, die − im Vertrauen auf falsche Beweise, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügt − die Invasion in den Irak in Gang gesetzt haben, dermaßen darauf erpicht sein sollten, in einen weiteren blutigen Mahlstrom zu geraten.

Durch Putins Vorschlag, die syrischen Chemiewaffen unter internationale Aufsicht zu stellen und das Arsenal anschließend komplett zu zerstören, sind sie zumindest vorübergehend vor dieser Torheit bewahrt worden. Dieses Unterfangen ist mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden und der russische Vorschlag, der inzwischen von US-Präsident Barack Obama begrüßt worden ist, wird dem Verlangen westlicher Länder nach einer Bestrafung nicht gerecht. Aber er hat die Dynamik durchbrochen, mit der auf eine militärische Intervention zugesteuert wurde.

Geopolitische Erwägungen haben bei dieser Vorgehensweise natürlich ebenfalls eine Rolle gespielt. Russland unterstützt die schiitischen Regierungen in Iran und Syrien, um seine eigene Position im Nahen Osten gegenüber den von den USA unterstützten sunnitischen Herrschern in Saudi-Arabien und den Golfstaaten zu sichern, die eine geringere Bedrohung für Israel darstellen. Nach dem derzeitigen Stand kann man allerdings behaupten, dass Putin Obama vor einem Fehler bewahrt hat, der seine Präsidentschaft hätte ruinieren können. Es könnte gut sein, dass er dafür eine politische Belohnung erwartet. Bekommen wird er sie voraussichtlich nicht.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

© Project Syndicate 1995–2013

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Fotos: © Getty Images

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