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Kolumne Demografie ist Indiens Trumpf

Der Abgesang auf Indien ist derzeit Mode an den Märkten. Doch langfristig bleiben die Aussichten gut. Denn das Land hat einen unschlagbaren Vorteil. Von Martin Kaelble

Martin Kaelble schreibt an dieser Stelle montags über Innovationen, Makro- und Techtrends aus der Weltwirtschaft.

Wenn es eine akademische Debatte in die Abendnachrichten schafft, muss die Verunsicherung über den wirtschaftlichen Kurs eines Landes groß sein. So geschehen in Indien: Seit Monaten liefern sich die beiden berühmtesten indischen Ökonomen Amartya Sen und Jagdish Bhagwati einen heftigen, mitunter persönlich werdenden Schlagabtausch. Im Kern geht es um die Frage, welche Maßnahmen Indien zu mehr Wachstum verhelfen können.

Keine Frage: Das Riesenland hat derzeit ein Problem. Das Wachstum hat sich für indische Verhältnisse deutlich abgeschwächt. Die Regierung verkündete erst vergangene Woche, dass es 2013 wohl nur rund fünf Prozent sein werden. Dabei war Indien Raten von sieben Prozent und mehr gewöhnt.

Die Wirtschaft steckt in einer Spirale nach unten. Mit der Aussicht auf eine mögliche Trendwende bei den US-Zinsen kehren viele Investoren Indien und anderen Schwellenländern den Rücken und ziehen ihr Geld ab. Das lässt die Rupie enorm steigen. Seit Mai ist sie gegenüber dem Dollar um 20 Prozent geklettert. Schlecht für die Exporte, treibend für die Inflation, belastend für das ohnehin schon zu große Leistungsbilanzdefizit. Die Zentralbank muss nun restriktiver werden, was aber gleichzeitig das Wachstum abwürgt. Kurz gesagt: Indien sitzt in der Patsche. Für den Moment jedenfalls.

Mangelnde Strukturreformen

Die Negativ-Story ist nun auf dem Markt. Was das zur Folge hat, kennen wir zuletzt aus der Euro-Krise. Die Märkte bewegen sich bekanntermaßen nicht in kleinen Schritten, sondern ruckartig, mit Tendenz zur Übertreibung. Und die Probleme eines Landes erscheinen plötzlich wie unter einem Brennglas. Einzelne Faktoren werden herausgepickt, die Abwärtsspirale damit angefeuert.

Ein Klassiker des Indien-Bashings: Die mangelnden Strukturreformen. Fraglos ein großes Problem, das auch im Kern der Bhagwati-Sen-Debatte steht. Allerdings konnte man der Regierung das auch schon in den vergangenen Jahren vorwerfen. Im Prinzip ist seit dem großen Wurf in den 90ern nicht mehr viel passiert in Punkto Reformen.

Doch das hat nicht verhindert, dass das Wachstum vor drei Jahren noch zweistellig war - bei mehr als elf Prozent! Seit 1997 lag das Wachstum im Schnitt bei knapp unter sieben Prozent. Nur weil Indien ständig mit China verglichen wird, verblasst diese enorme Rate.

Schaut man auf die Fundamentaldaten, stellt man fest: Es ist nicht alles schlecht in Indien. Mehr noch: Den Problemen in Indien steht ein fundamentaler Faktor gegenüber, der mittelfristig alles überschatten wird. Die Demografie.

Auch wenn es oft genug geschrieben wurde: Man kann diesen Aspekt, angesichts des derzeitigen Abgesangs auf Indien, offenbar nicht deutlich genug betonen. Indiens Bevölkerung wächst rasant. Jeder dritte Inder ist unter 14 Jahre alt. Nach wie vor leben viele davon auf dem Land. Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet noch im Agrarsektor. Zum Vergleich: In China sind es nur noch etwas über 30 Prozent, nachdem der Übergang von Land- zu Fabrikarbeitern der Kraftstoff für das dortige Turbowachstum der letzten Jahre war.

In China ist die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter 2012 nun erstmals geschrumpft. Ab 2015 erwarten Experten eine deutliche Beschleunigung dieser Entwicklung. China beginnt also rasant zu altern. In Indien dagegen dürften die Entwicklungen, die in China in den vergangenen Jahren für das enorme Wachstum sorgten, zum Teil erst bevorstehen.

Abschwung nicht zu verhindern

Demografie ist Trumpf. Das werden wir wohl erst so richtig begreifen, wenn in der industrialisierten Welt und in China die demografische Falle zuschnappt und die Rechnung der Sozialsysteme nicht mehr aufgeht.

Keine Frage: Das ist eine langfristige Perspektive. Kurzfristig wird es den Abschwung wohl nicht verhindern. Doch jeder Investor, der sein Geld aus Indien abzieht, sollte es im Hinterkopf behalten: Macht er die kurzfristige Mode, das nervöse Hin- und Her der Markthypes mit? Oder setzt er auf die langfristigen Fundamentalfaktoren.

Ein wenig Hoffnung gibt es übrigens sogar für die kurze Frist. Interessanterweise in Form des legitimen Nachfolgers von Bhagwati und Sen, der nun in sein Heimatland zurückgekehrt ist, während die beiden anderen im fernen Amerika diskutieren.

Mit Raghuram Rajan hat Indien einen neuen Notenbankpräsidenten, der als einer der smartesten Ökonomen der Welt gilt. Sein Buch „Fault Lines“ ist mit das beste, was zur Finanzkrise geschrieben wurde - mit erstaunlicher Weitsicht, jenseits der Ideologiegrenzen. Es sitzt nun also jemand am so wichtigen Steuer der indischen Geldpolitik, der das Zeug hat, ein echter Gamechanger in Indiens bislang zurecht kritisierter Policy-Landschaft zu werden. Rajan hat bereits einen Plan zur Stabilisierung der indischen Wirtschaft verkündet. Am Freitag steht seine erste Zinsentscheidung an.

Zu den letzten Kolumnen von Martin Kaelble: Die Rückkehr der Konglomerate, Macht euch unverwechselbar!, und Entzaubertes China

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Fotos: © Trevor Good

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