Wie tief in der deutschen IT-Branche der Schock über die Snowden-Enthüllungen sitzt, lässt sich derzeit auf der IT- und Computermesse Cebit beobachten. Dort, wo in den vergangenen Jahren zuvorderst die Verheißungen der neuen Datenwelt gepredigt wurden, die unbegrenzten Möglichkeiten des Datensammelns und der Vernetzung - dort regiert nun die Angst vor Abhörmaßnahmen und Cyberangriffen, dort hat das Sicherheitsdenken plötzlich höchste Priorität.
Die monatelange Diskussion um die amerikanischen und britischen Geheimdienstaktivitäten im Internet hat vielen Unternehmen die Verwundbarkeit ihrer IT-Infrastruktur drastisch vor Augen geführt. Und sie hat die Akteure der IT-Branche unter Rechtfertigungsdruck gesetzt, die diese Unternehmen bislang mit viel Verve und grenzenlosem Optimismus davon überzeugen wollten, all ihre Daten in die Cloud zu legen.
Doch im Jahr 2014 wirkt die Datenwolke auf viele Unternehmer eher wie eine Bedrohung. Aus der Verheißung einer flauschigen weichen Vision, die alles einfacher macht, ist im Handumdrehen ein Schreckgespenst des Daten-Kontrollverlusts geworden. Die Snowden-Enthüllungen waren so etwas wie der Super-GAU, das Fukushima der IT-Industrie. Damit steht auch eines der wichtigsten Geschäftsmodelle zur Disposition, auf das sich die deutsche IT-Branche in den vergangenen Jahren kapriziert hat.
Kein Wunder, dass die Branche fast schon verzweifelt nach Auswegen sucht, ihre Cloud-Produkte zu retten. Das Vertrauen in smarte IT-Technologie und Datenvernetzung überhaupt zu retten. Sicherheit „Made in Germany“ soll nun die Lösung sein. Daten-Kontrolle als neues Geschäftsmodell.
Sicherheitsexperten sind die neuen Stars
Die neuen Stars auf der Cebit sind Verschlüsselungs- und Sicherheitsexperten. Was sie sagen, wäre von vielen Cloud-Enthusiasten bis vor kurzem noch als milde Form der Paranoia belächelt worden. In ihren Vorträgen kommt häufig der Satz vor: „Vor einem Jahr hätten Sie jetzt das nicht geglaubt, aber mittlerweile wissen wir ja...“ Sie reden von zutiefst verwundbaren IT-Strukturen - und sie zeigen sie sogar live, in Deutschland: Kraftwerke, Industrieunternehmen, Wasserwerke, Privathäuser - jederzeit aus dem Internet von Unbefugten manipulierbar: Deutschland als Entwicklungsland in Sachen IT-Sicherheit. Das Business-Publikum hört den professionellen Mahnern gespannt zu. Belächelt werden sie nicht mehr.
Selbst Branchenriesen wie die Telekom laden sich diese Sicherheits-Koryphäen, die bislang eher beim Chaos Computer Club gastierten, zu Vorträgen an ihren Stand ein. Die Konzerne präsentieren stolz ihre „Hacker“, die etwa live die Telefone der Zuschauer abhören, Kurznachrichten fälschen und Trojaner aufspielen - um danach ihre eigenen Sicherheitslösungen anzupreisen. Denn Datensicherheit, soviel ist klar auf der Cebit, ist wohl das nächste große Ding. Das deutsche Geschäftsmodell nach Snowden, nach dem Vertrauensverlust. Den vor kurzem noch inflationär verwendeten Begriff „Big Data“ benutzt heute fast keiner mehr gerne - er klingt nach den Überwachungsskandalen zu sehr nach Big Brother, nach Daten-Sammelwut und Überwachungsphantasien. „Datability“ klingt da schon besser. Verantwortungsvoll und erwachsen möchte die Branche wahrgenommen werden. Führend in Sachen Daten-Sicherheit.
Doch die Realität sieht anders aus, das weiß auch die Bundeskanzlerin. Die EU-Staaten müssten ihren technologischen Rückstand gegenüber den USA aufholen, sagte Angela Merkel bei der Cebit-Eröffnung. Sonst befürchte sie gravierende Konsequenzen. Die jahrelang selbst abgehörte Regierungschefin forderte von der Branche gar „den absoluten Willen zur IT-Aufholjagd“.
Merkel verlangt das Aussichtslose
Das klingt ambitioniert und energisch, ist aber politisch eher das Gegenteil: Das, was Merkel bei den NSA-Skandalen nicht Willens oder nicht im Stande war, den USA in der Sphäre der Politik entgegenzusetzen, soll nun offenbar die deutsche IT-Branche bei der Technik schaffen - aus dem Rückstand, als Aufholjagd. Eine fast aussichtslose Aufgabe. Welch seltsame Blüten dieses Engagement treiben kann, hat bereits der Vorstoß der Telekom gezeigt, eine Art EU-basiertes „Schengen-Netz“ zu etablieren - ein absurder Plan in einer global vernetzten Welt.
Auch das zeigt die diesjährige Cebit: Es wird noch eine Weile dauern, bis die deutsche IT-Branche den Schock verkraftet hat, den Snowdens Enthüllungen hervorgerufen haben. Zu einer realistischeren Sichtweise der Branche auf die realen Gefahren des Datenmissbrauchs hat die Erschütterung offenbar schon einmal geführt - für die Kunden ist das eine gute Nachricht.