Die weiße Weste der Europäischen Union als Hort der Rechtsstaatlichkeit hat einen gehörigen Fleck: Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ führte 2021 erstmals einen Ministerpräsidenten aus der EU auf ihrer Liste der weltweit größten Feinde der Pressefreiheit.
Die Liste nennt 37 Staats- und Regierungsoberhäupter, die nach Ansicht des Journalistenverbandes „in besonders drastischer Weise die rücksichtslose Unterdrückung der Pressefreiheit verkörpern“. Weiter heißt es: „Sie drohen und verunglimpfen Journalistinnen und Journalisten, zensieren Medien oder lassen sogar ein Flugzeug entführen, um Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen.“ Manche Machthaber würden neben willkürlichen Inhaftierungen auch nicht vor Mord zurückschrecken. Dies verdeutlichte im Jahr 2018 unter anderem der grausame Tod von Jamal Khashoggi.
Feinde der Pressefreiheit
„Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht die Liste der „Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit“ ohne Anspruch auf Vollständigkeit in unregelmäßigen Abständen seit 2001. Die zuvor letzte Ausgabe war 2016 erschienen. Der aktuelle Bericht enthält viele alte Bekannte, darunter Russlands Staatschef Wladimir Putin und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un.
Seitdem hat die Liste etliche Neuzugänge bekommen. „In allen Weltregionen sind neue Namen hinzugekommen“, berichtete Christian Mihr, Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“. „Ihre Unterdrückungsmethoden sind verschieden, dienen aber demselben Zweck: Kritische Berichterstattung um jeden Preis zu verhindern.“
Und das betrifft nicht nur Journalisten, die trotz Gefahr für Leib und Leben weiterhin über Korruption und Unterdrückung berichten. Feinde der Pressefreiheit schadeten laut Mihr auch der „Bevölkerung, der damit der gerade in Zeiten einer globalen Pandemie so wichtige Zugang zu unabhängigen Informationen verwehrt“ werde.
Dies sind laut „Reporter ohne Grenzen“ einige der neuen Feinde der Pressefreiheit weltweit.
Die größten Feinde der Pressefreiheit
Viktor Orbán ist 2021 der erste EU-Ministerpräsidenten, der von „Reporter ohne Grenzen“ zu den Feinden der Pressefreiheit gezählt wird. Seit er und seine Fidesz-Partei 2010 an die Macht gekommen seien, hätten sie Ungarns Medienlandschaft Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht, begründete die Organisation ihre Entscheidung. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender seien in einer staatlichen Medienholding zentralisiert worden, die regionale Presse befinde sich seit 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer, wichtige unabhängige Medien seien ausgeschaltet worden. „Regierungskritische und investigative Berichte finden über kleinere Online-Medien nur noch geringe Verbreitung. Wiederholt haben regierungsnahe Medien ‚schwarze Listen¬‘ unliebsamer Journalistinnen und Journalisten veröffentlicht“, prangerte Reporter ohne Grenzen an.
Der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman gehört ebenfalls zu den Neuzugängen der Liste. Als „Kronprinz mit zwei Gesichtern“ bezeichnete ihn das ZDF in einer Dokumentation: „Vordergründig öffnet er sein Land dem Westen, hinter den Kulissen aber lässt er Regimegegner eiskalt ausschalten.“ 2018 wurde einer seiner Kritiker, der im Exil lebende Journalist und „Washington Post“-Kolumnist Jamal Khashoggi, bei einem Behördengang in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul auf Geheiß der Regierung hin ermordet und seine Leiche zerstückelt. Das habe „die ganze Brutalität des harten Vorgehens gegen unabhängige Journalisten, sogar über die Grenzen des Königreichs hinaus“ gezeigt, hieß es im Bericht von „Reporter ohne Grenzen“. Demnach sollen mehr als 30 Journalisten und Blogger derzeit in Saudi-Arabien inhaftiert sein, weil sie kritisch über die Politik des Königreichs oder über die Zustände im Land berichtet hätten. Mehrere der Gefangenen sollen gefoltert worden sein.
Ebenfalls neu im Kreis der Pressefeinde ist der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, seit 2019 im Amt. „Reporter ohne Grenzen“ warf ihm eine Hetzkampagne gegen Journalisten vor, die offen als „schlimmer als Müll“ diffamiert würden. Ähnlich wie Ex-US-Präsident Donald Trump bedient sich Bolsonaro demnach sozialer Medien, um seine Botschaften direkt an seine Anhänger zu verbreiten. Ein Hauptziel des Präsidenten sei laut dem Bericht der Fernsehsender TV Globo, „der die Dreistigkeit besaß, die brasilianische Bevölkerung über die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie und die Zahl der virusbedingten Todesfälle zu informieren“. Die Folge: Vorwürfe, die Journalisten würden das Land verraten und zerstören wollen. 2022 drohe dem Sender der Entzug der Sendefrequenz.
Im Kampf um die Demokratie in Hongkong steht Regierungschefin Carrie Lam auf der Seite der chinesischen Machthaber. An ihrem Plan, die Auslieferung von Häftlingen – darunter auch Journalisten – an das chinesische Festland zu ermöglichen, entzündeten sich 2019 die Massendemonstrationen in der ehemaligen Kronkolonie. Mittlerweile vertritt Lam nach Ansicht von „Reporter ohne Grenzen“ offen die repressive Politik des chinesischen Präsidenten Xi Jinping gegen die Medien. „Das führte zum Aus der kritischen Tageszeitung 'Apple Daily' und zur Inhaftierung des Verlegers Jimmy Lai, der unter dem sogenannten, von Peking aufgezwungenen Sicherheitsgesetz angeklagt wurde. Er muss mit einer lebenslangen Haftstrafe rechnen.“ Die Organisation bezeichnete Lam als „Marionette“ von Xi, die ihre freiheitsfeindliche Politik unter dem Deckmantel des „Patriotismus“ betreibe. Die Region Asien-Pazifik stellte 13 der insgesamt 37 „Feindinnen und Feinde der Pressefreiheit“.
Neben dem pakistanischen Premierminister Imran Khan ist auch Indiens Regierungschef Narendra Modi von „Reporter ohne Grenzen“ zu einem neuen Feind der Pressefreiheit ausgerufen worden. Die Organisation warf Modi eine „perfide“ Strategie vor. Zum einen sichere er sich durch enge Beziehungen zu den Inhabern der Medienimperien eine wohlwollende Berichterstattung. „Andererseits profitieren die kommerziellen Medien, die prominent über seine extrem spalterischen, stigmatisierenden und mit Falschinformationen gespickten Reden berichten, von Rekordeinschaltquoten.“ Um die verbleibenden kritischen Journalisten aus dem Weg zu schaffen, stünden Modi eine Reihe rechtlicher Instrumente zur Verfügung. So drohe beim „extrem vagen Vorwurf der Aufwiegelung“ lebenslange Haft. Zu den weiteren Neuzugängen in der Region gehörten der kambodschanische Ministerpräsident Hun Sen, Sri Lankas Präsident Gotabaya Rajapaksa und Bangladeschs Premierministerin Sheikh Hasina.
Unter der neuen politischen Führung in Kuba hat sich nach Sicht von „Reporter ohne Grenzen“ nichts an der Unterdrückung der Pressefreiheit geändert. Miguel Díaz-Canel, seit Oktober 2019 Staatspräsident, setze die Null-Toleranz-Politik der Castro-Familie gegenüber unabhängigen Medien fort. Der Protegé von Raúl Castro übe mit seiner Regierung eine fast totale Nachrichtenkontrolle aus, kritisierte die Organisation: „Private Presse ist laut Verfassung verboten. Willkürliche Verhaftungen und Freiheitsstrafen, Androhung von Gefängnis, Verfolgung und Psychoterror, gesetzeswidrige Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Vernichtung journalistischer Unterlagen gehören zum Alltag aller Medienschaffenden, die nicht der offiziellen Linie folgen.“ Durch die Ausbreitung des Internets seien zwar vereinzelt Freiräume entstanden. Allerdings stünde auch der digitale Raum größtenteils unter staatlicher Kontrolle. Journalisten oder Blogger würden sich hier ebenfalls in Gefahr begeben.
In Osteuropa und Zentralasien gehören der russische Präsident Wladimir Putin und sein weißrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko laut „Reporter ohne Grenzen“ seit mehr als 20 Jahren zu den größten Feinden der Pressefreiheit. Neu in der Region auf die Liste gekommen ist Tadschikistans Präsident Emomali Rachmon. Dabei regiert er bereits seit 1998. 2020 wurde „der ewige Herrscher“ (so die Deutsche Welle) für eine fünfte Amtszeit bestätigt. Seit der letzten Ausgabe der Liste 2016 hat sich die Lage nach Ansicht der Beobachter allerdings verschlimmert. „Die wichtigsten unabhängigen Medien mussten unter dem Druck der Staatsmacht schließen, unabhängige Webseiten und soziale Netzwerke werden blockiert“, hieß es im aktuellen Bericht. „Die meisten Journalistinnen und Journalisten üben sich in strenger Selbstzensur. Wer kritisch über Korruption in der herrschenden Elite berichtet, riskiert jahrelange Gefängnisstrafen.“