Es ist eine weitere schlechte Nachricht für die europäischen Verbraucher: Norwegen, ein großer Stromexporteur, hat angekündigt, seine Lieferungen in die EU in den nächsten Monaten möglicherweise einzustellen. Der Grund: Die ungewöhnlich leeren Wasserreservoirs, aus denen die 1700 Wasserkraftwerke des Landes gespeist werden. Sie liefern mehr 90 Prozent des erzeugten Stroms.
Laut der norwegischen Behörde für Wasserressourcen und Energie (NVE) waren die Stauseen oberhalb der Staudämme zuletzt zu 68,4 Prozent gefüllt, rund zehn Prozentpunkte weniger als üblich. Im Südwesten des Landes sind die Reservoirs sogar nur zu gut 50 Prozent gefüllt. Aus eben dieser Region liefert das Land aber einen Großteil des Stroms an seine Nachbarn. Norwegen könnte deshalb im Winter eine Notlage erklären – und auf dieser Grundlage seine Exporte über längere Zeit einstellen.
Ursache für die Wasserknappheit sind die außergewöhnlich niedrigen Niederschlagsmengen der vergangenen beiden Jahre. Die Dürre, die derzeit weite Teile Europas beherrscht schlägt so direkt auf den europäischen Energiemarkt durch. Neben der Gaskrise droht dem Kontinent nun auch noch eine Explosion der Strompreise (siehe voriger Artikel in dieser Ausgabe).
Auswirkungen auf die Solarenergie
Der Fall Norwegen zeigt, wie etliche andere, wie anfällig die Stromversorgung für die Folgen des Klimawandels ist. „Die klimatischen Bedingungen wirken sich auf die Erzeugung aus“, sagt Thibault Laconde, Ingenieur und Leiter von Callendar, einem auf Klimarisiken spezialisierten Unternehmen mit Sitz in der Nähe von Paris. Hitze und Niederschlagsmangel beeinflussen die Stromproduktion durch Wasserkraft und Kernenergie, aber ebenso die Kohleverstromung, weil der Brennstoff auf dem Wasserweg transportiert wird.
Die extrem hohen Temperaturen beeinträchtigen sogar die Solarenergie: „Bei Photovoltaikanlagen wurde aufgrund der Hitzewellen ein Rückgang des Wirkungsgrades und der Produktion beobachtet“, sagt Gregorio Fernández, Projektleiter am spanischen Forschungszentrum CIRCE.
Die klimatischen Bedingungen beeinträchtigen die Stromerzeugung in etlichen europäischen Ländern. In Italien seien die Auswirkungen der Dürre gravierend, vor allem weil das Land stark von der Wasserkraft abhängig sei, sagt Michele Governatori, Leiter des Programms für Strom und Gas beim italienischen Think-Tank Ecco. Diese mache rund ein Drittel der insgesamt an erneuerbaren Energien installierten Leistung von 65 GW aus.
In Frankreich macht die Wasserkraft zwar nur zehn bis 15 Prozent des Energiemixes des Landes aus. Aber „sie hat eine wichtigere Rolle, als dieser Prozentsatz vielleicht vermuten lässt, nämlich als Speicher“, sagt Thibault Laconde. Die Wasserkraft könne unvorhergesehene Ereignisse in der Energieversorgung relativ schnell ausgleichen. Außerdem ermögliche sie die Regulierung des Wasserstandes in Flüssen, was zum Beispiel für Kernkraftwerke nützlich sein könne.
Elektroheizungen weit verbreitet
Paris hat bereits die Temperaturschwelle ausgesetzt, oberhalb derer die Kraftwerke das Flusswasser, das sie zur Kühlung ihrer Reaktoren verwenden, nicht mehr ableiten dürfen. Das erwärmte Wasser hat negative Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt. Diese Notmaßnahme wurde ergriffen, um die Stromproduktion zu entlasten. Wegen der Abschaltung von mehr als der Hälfte der Kernkraftwerke wegen Wartungsarbeiten steht diese bereits enorm unter Stress. Die Atomkraft steht für 70 Prozent des Energiemixes in Frankreich.
Durch die Maßnahme habe die Regierung den Rückgang der Stromerzeugung deutlich abgemildert, sagt Thibault Laconde. Es handele sich jedoch um eine vorübergehende Lösung. „Der September ist normalerweise die Zeit, in der die Wassermenge am geringsten ist. Diese Periode kann bis in den November hineinreichen, was auf mögliche Einschränkungen der Kernkraftwerke hindeutet“, so der Ingenieur.
Laconde betont außerdem die „sehr hohe Temperatursensibilität“ Frankreichs aufgrund des hohen Anteils an Elektroheizungen im Land. Die Sensibilität bezieht sich auf die Veränderung des Stromverbrauchs, die durch einen Temperaturrückgang hervorgerufen wird. „In Frankreich haben wir einen Anstieg (des Verbrauchs) von 1900 MW pro Grad, was der Aktivierung von zwei zusätzlichen Atomreaktoren entspricht“, erklärt er.
Billige Energie aus Spanien
Dieses Szenario geht jedoch von einem funktionierenden Kernkraftwerkspark aus, was in Frankreich derzeit nicht der Fall ist. Daher ist Frankreich in diesem Sommer von einem Stromexporteur zu einem Stromimporteur geworden. „Dass wir den Sommer überstehen konnten, haben wir unseren Nachbarn zu verdanken. Es ist nicht sicher, dass dieses Szenario so weitergehen wird“, sagt Laconde.
Dabei weist er auf die Verflechtung der nationalen Energiemärkte untereinander hin und die Gefahr eines Dominoeffekts: „Man muss beachten, dass in Spanien der Gaspreis gesetzlich begrenzt wurde, also kauft Frankreich seltsamerweise billigere Energie in Spanien und importiert sie.“ Daher sei die Exportkapazität von Spanien nach Frankreich im Juli 2022 ausgeschöpft worden, was etwa im Februar 2022 nicht der Fall gewesen sei, sagt Gregorio Fernández.
Dieser Dominoeffekt erhöht das Risiko einer Stromknappheit für die europäischen Verbraucher. Diese kann nicht einmal durch einen drastischen Preisanstieg ausgeglichen werden.
Warnung aus Finnland
So hat Fingrid Oyj, der Betreiber des finnischen Übertragungsnetzes, gerade erst eine Mitteilung veröffentlicht, in der er die Finnen auffordert, sich auf mögliche Stromengpässe im nächsten Winter einzustellen. „Der Krieg in Europa und die außergewöhnliche Situation auf dem Energiemarkt haben die Unsicherheiten in Bezug auf die Verfügbarkeit von Strom erhöht“, hieß es in der Erklärung.
Beim Europäischen Netzwerk der Übertragungsnetzbetreiber, Entso-E, ist man nicht viel optimistischer. „Der Stand der Wasserkraftspeicher am Ende des Sommers wird sich auf die Bewertung der Winterprognose auswirken“, stellt die Organisation in ihrem Summer Outlook Report 2022 nüchtern fest. „Die Prognosen für die hydrologischen Bedingungen sind nicht optimistisch, was die Eignungssituation für den Winter 2022-2023 in dieser Region [Südeuropa] beeinflussen könnte. Daher die Notwendigkeit einer genauen Beobachtung in den kommenden Wochen und Monaten.“
Michele Governatori vom italienischen Think-Tank Ecco schließt ebenfalls nicht aus, dass es im nächsten Winter zu einer Energieknappheit kommen könnte, da die Mittel für die staatlichen Stützungsmaßnahmen bald aufgebraucht sein könnten. „Die Regierung hat sich lange Zeit auf neue Gasquellen und -infrastrukturen verlassen, anstatt Energiesparmaßnahmen zu aktivieren.“