Strommarkt-Experte Lion Hirth warnt vor der schlimmsten Energiekrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Alle Seiten müssten jetzt Kompromisse machen – auch wenn das vorübergehend der Umwelt schadet
Capital: Herr Hirth, alle Menschen reden über die Gaspreise, dabei sind auch die Strompreise innerhalb eines Jahres um 1500 Prozent hochgeschossen. Woran liegt das – Russland liefert doch keinen Strom an uns?
LION HIRTH: Das stimmt, und trotzdem ist der Gaspreis der wichtigste Faktor, da in Europa oft Gaskraftwerke benötigt werden, um den Strombedarf zu decken. Allein aus Kohle, Atomkraft und erneuerbaren Energien können wir unseren Bedarf nicht immer decken. Da Gas aber aktuell so teuer ist, treibt das natürlich den Strompreis nach oben, weil Gas ohnehin die teuerste Art ist, um Strom zu erzeugen.
Auf den europäischen Strommärkten gilt es das sogenannte „Merit-Order-Modell“. Letztlich greift der Preis für die teuerste Stromart für alle Stromsorten. Manchmal kostet also Strom aus günstigen erneuerbaren Energien genauso viel teurer Strom aus Gas. Das leuchtet nicht automatisch ein. Ist das wirklich ein sinnvolles Marktdesign?
Ja, das ist es. Manche Menschen glauben, dass das Merit-Ordner-Modell speziell für den Strommarkt designt wurde. Das ist mitnichten so. Das Prinzip der Grenzbepreisung, das also dass der teuerste Preis für alle gilt, gilt grundsätzlich auf allen Märkten, insbesondere bei Rohstoffen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ich mag die Analogie aus der Ölförderung. Man kann sich vorstellen, es gibt eine sehr günstige Quelle in Saudi-Arabien, eine etwas teurere in Russland und eine sehr teure Quelle in den USA. Der Ölbedarf ist so hoch, dass alle drei Ölquellen benötigt werden. Die amerikanische Quelle wird aber nur zu dem Preis verkaufen, der ihre Kosten deckt. Und Russland beziehungsweise Saudi-Arabien werden dann den gleichen Preis verlangen, weil sie auch zu diesen Konditionen verkaufen können. Die Nachfrage ist einfach hoch genug. Auf dem Strommarkt ist das sehr ähnlich, nur dass der Markt viel kurzfristiger funktioniert. Das Merit-Order-Modell ist also kein spezifischer Mechanismus, den irgendjemand festgelegt hat, vielmehr ist es eine Beschreibung des Marktes, eine Erklärung, wie sich Preise bilden, wenn Angebot und Nachfrage zusammenwirken.
Das müssen Sie erklären…
Auf den Großhandelsmärkten für Strom reden wir normalerweise von 15-Minuten-Preisen. Der Strompreis ändert sich also ständig. Der Grund hierfür ist, dass man Strom, anders als Öl, nicht in großen Mengen speichern kann. Manchmal kommen wir ohne Gaskraftwerke aus, manchmal nicht. Immer wenn Gaskraftwerke notwendig sind, steigt der Preis, weil ihre Kosten höher sind. Alle anderen Kraftwerke nehmen dann natürlich den gleichen Preis mit. Und weil sich die Gaspreise quasi verzehnfacht haben, ist eben auch der Strompreis so stark gestiegen.
Der Anteil von Gaskraftwerken am Strommix beträgt nur etwa zwölf Prozent. Wieso ist es gerechtfertigt, dass dieser kleine Anteil so einen großen Effekt auf den Preis hat?
Den Preis zahlen wir ja nicht immer. Scheint zum Beispiel mal eine Viertelstunde kräftig die Sonne und die Nachfrage ist niedrig, dann tendiert dieser Preis schnell mal gegen null. Dann zahlen wir gar nichts. Wir zahlen nur den hohen Preis, wenn die Gaskraftwerke benötigt werden. Der Strompreis steigt eben manchmal in schwindelerregende Höhen, aber fällt hin und wieder sogar unter null. Dann müssen Betreiber dafür zahlen, Strom herstellen zu dürfen.
Nicht nur die kurzfristigen Preise auf dem Spotmarkt sind gestiegen. Auch auf dem langfristigen Terminmarkt sind Preise zuletzt von 30 auf über 650 Euro pro Megawattstunde geklettert. Ist das auch alles durch die Gaspreise zu erklären?
Zu einem großen Teil, ja. Daneben gibt es aber noch zwei weitere wichtige Faktoren. Das eine ist, dass wir in Europa eine außerordentliche Trockenheit haben – nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in Südeuropa. Dort, in Spanien, Italien und Frankreich, spielt vor allem Wasserkraft eine wichtige Rolle, und die produziert aktuell deutlich weniger Strom. Der Strom fehlt uns und muss dann aus teuren Gaskraftwerken kommen. Der zweite Faktor ist die Situation in den französischen Atomkraftwerken. Dort gibt es 54 Reaktoren, aber gerade mal die Hälfte ist aktuell in Betrieb – aufgrund von Schäden, von Überprüfungen et cetera. Eine echte Krise der französischen Kernkraft. Auch der fehlende Atomstrom muss durch Gas ersetzt werden. Der Atomausstieg in Deutschland und der Kohleausstieg in vielen Ländern tragen natürlich ebenfalls dazu bei.
Dazu kommt noch das Niedrigwasser im Rhein, wodurch weniger Kohle für die Verstromung transportiert werden kann. Das kulminiert sich. Es klingt so, als sei der Preissprung jedenfalls fundamental erklärbar und keine Spekulation der Märkte…
Ja, das ist auf dem Strommarkt definitiv so. Ich wüsste auch nicht, wie man durch Spekulation hier Geld verdienen kann – dann müsste man den Strom ja physisch speichern, um ihn später teurer wieder zu verkaufen.
Gab es rückblickend entscheidende Momente, die zu den steigenden Preisen heute geführt haben – außerhalb des russischen Angriffskrieges?
Hinterher ist man natürlich immer schlauer. Klar ist, dass wir uns in Europa in der schwersten Energiekrise seit den 1970er Jahren befinden, vielleicht sogar seit dem zweiten Weltkrieg. Das, was gerade an den Märkten passiert, ist der komplette Wahnsinn. Selbstverständlich hätten die Politik, Unternehmen, Investoren, die Wissenschaft, auch ich, ganz viele Dinge, ganz anders gemacht, wenn wir das hätten kommen sehen.
Zum Beispiel?
Hätte ich das geahnt, hätte ich vor zwei Jahren mein komplettes Geld zusammengekratzt und in einen Windpark investiert. Andersrum ist jedes Abschalten von Kraftwerken im Rückblick eine unternehmerische politische Fehlentscheidung gewesen. Aber darüber nachzudenken, ist unfair und irgendwie auch müßig. Der wesentliche Grund für die Energiekrise ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine, nicht irgendeine Entscheidung von deutschen Politikern.
Sie haben eine Liste mit 14 Sofortmaßnahmen zusammengestellt, darunter das Aussetzen von Mindestabständen bei PV-Anlagen oder die Freigabe von Kohle-Reserven. Zunächst einmal: Wie kurzfristig lässt sich so etwas umsetzen und was davon am schnellsten?
Das ist bei jeder Maßnahme unterschiedlich. Viel wichtiger ist das Motto – und das sollte heißen: so schnell es eben geht. Aktuell sieht es so aus, dass die Strompreise noch bis mindestens 2025 so hoch bleiben. Das heißt, alles, was uns hilft, mehr Strom zu produzieren, ohne dabei Gas zu verbrauchen, ist wichtig. Und natürlich auch alles, was uns hilft, mehr Strom und Gas zu sparen. Wir brauchen beides: mehr Energieangebot und weniger Energieverbrauch.
Das heißt: Atomkraftwerke verlängern, Kohlekraftreserven aktivieren…
Die kurze Antwort ist: Alles, wir brauchen wirklich alles. Natürlich heißt das, Atomkraft zu verlängern und alle Kohlereserven sofort zurück an den Markt zu bringen. Aber eben vor allem, erneuerbare Energien zu fördern. Es ist wirklich nicht die Zeit, Befindlichkeiten zu zeigen. Das gilt von der politischen Führung bis hin zu lokalen Baugenehmigungsbehörden. Alle, wir alle, müssen Kompromisse machen.
An welche Kompromisse denken sie?
Windkraftanlagen werden beispielsweise nicht aufgestellt oder zu bestimmten Zeiten abgeriegelt, weil Fledermäuse beheimatet sind. Das finde ich grundsätzlich sinnvoll und richtig – gleichzeitig denke ich aber, dass wir diese Regeln für einige Jahre aussetzen sollten, weil die Abwägung momentan eine andere ist als in Friedenszeiten.
Gibt es beim Strom denn einen Vorteil dadurch, dass wir diesen auch selbst herstellen können – anders als zum Beispiel Gas?
Ja, definitiv. Das hässliche an der Gaskrise ist, dass wir viele Sachen machen müssen, die wir langfristig aus klimapolitischen Gründen gar nicht machen wollen. Zum Beispiel neue LNG-Terminals bauen, die wir in ein paar Jahren hoffentlich nicht mehr brauchen. Beim Strom sind wir in der glücklichen Situation, dass die meisten aktuellen Lösungen auch langfristig richtig sind. Das heißt, jede beschleunigt installierte PV-Anlage, jeder früher aufgestellte Windpark hilft uns jetzt sofort – aber auch mittel- bis langfristig –, den Strompreis zu senken. Und gleichzeitig können wir die Stromkrise weitgehend zu Hause lösen, durch mehr erneuerbare Energien in Deutschland.
Brauchen wir dafür die Atomkraft?
Meine Meinung ist, wir sollten aus der Atomkraft alles rausholen, was jetzt noch geht. Mindestens in den Streckbetrieb gehen, wenn möglich sogar neue Brennstäbe bestellen und eine Sicherheitsüberprüfung machen. Das müssen aber Atomsicherheitsexperten bewerten. Langfristig halte ich Atomkraft für wenig sinnvoll, weil sie drei- bis fünfmal so teuer ist wie erneuerbare Energien und gar nicht für den flexiblen Betrieb ausgelegt ist, den moderne Stromsysteme benötigen. Es ist eine Technologie aus dem 20. Jahrhundert, die wir in der Zukunft nicht mehr brauchen.
Die hohen Strompreise sind noch lange nicht bei allen Verbraucherinnen und Verbrauchern angekommen. Das wird wohl erst im kommenden Jahr passieren, und Teile der Bevölkerungen werden sich diese Preise definitiv nicht leisten können. Wie müsste ein Entlastungspaket aussehen, das gleichzeitig nicht die Nachfrage erhöht – wie etwa der viel kritisierte Tankrabatt?
Wir müssen die sozialen Härten abfedern, das ist gar keine Frage. Die Kompensation der Betroffenen darf aber nicht dazu führen, das Grundproblem zu verschlimmern. Das Grundproblem heißt: Wir haben zu wenig Strom und zu wenig Gas. Wenn wir also Kompensationen einführen, die die Sparanreize untergraben oder die dazu führen, dass die Produzenten nicht mehr in neue Kraftwerke investieren, dann schießen wir uns ins Knie. Leider führen aber viele gut gemeinte Vorschläge genau zu diesen Effekten. Im Grunde ist die Antwort einfach: Wir brauchen eine finanzielle Abfederung nur für diejenigen, die am härtesten getroffen sind. Das sind in aller erster Linie Haushalte mit geringem Einkommen, die mit Gas heizen und in schlecht isolierten Wohnungen leben. Diese sollten mit Pauschalzahlungen unterstützt werden. Wichtig ist, dass die Preise hoch bleiben, damit es sich weiter auch finanziell lohnt, Energie zu sparen.