Im tropischen Salvador passt wenig zueinander. Es ist eine abgelegene afrikanisch-portugiesische Stadt an der Küste Brasiliens. Ausgerechnet hier findet heute Abend ein deutsches Psychodrama statt.
Denn Deutschland ist im Fußball lange Zeit immer der hässliche Sieger gewesen. Dann wurde es der schöne Verlierer. Mit dem Auftaktspiel gegen Portugal will die deutsche Mannschaft nun ihre nächste Wiedergeburt einleiten: Als schöner Sieger.
Die Ära der hässlichen Siege entspricht ziemlich genau der Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik: Sie begann 1954, als auch das Wirtschaftswunder Fahrt aufnahm. Und sie endete 1990, drei Monate vor der offiziellen Wiedervereinigung. Die Westdeutschen spielten einen körperlich intensiven Fußball, sie stritten miteinander und waren im Ausland aus gewissen historischen Gründen unbeliebt.
Immer in der Schurkenrolle
Westdeutschland, so hat der Autor David Winner einmal gesagt, übernahm bei den Weltmeisterschaften immer die Schurkenrolle. Es war der Bösewicht, der die schönen Mannschaften niederstreckt: 1954 die Ungarn, 1974 die Holländer, 1982 die Franzosen. „Eine Weltmeisterschaft ohne Deutschland wäre wie Star Wars ohne Darth Vader“, so Winner.
Viele Deutsche mochten aber nicht Darth Vader sein. Die „Zeit“ prägte für dieses Gefühl das Wort „Siegesscham“. Die deutschen Teams, die 1982 und 1986 ins WM-Finale kamen, waren „peinlich“, sagt Albrecht Sonntag, ein deutscher Soziologe an der Ecole Supérieure des Sciences Commerciales im französischen Angers.
WM 1982: Brutales Foul an Battiston
Sieben Tage nach der deutsch-deutschen Währungsunion 1990 gewann das letzte westdeutsche Team den Titel. Mit Blick auf die ostdeutschen Spieler, die künftig noch hinzukommen würden, sagte Franz Beckenbauer damals seinen berühmten Satz: „Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden in den nächsten Jahren nicht zu besiegen sein.“
Er lag falsch. Die Ära der Siege endete mit der Wiedervereinigung. Die Europameisterschaft 1996 war ein letzter kleinerer Triumph.
ein wunderbar bewegliches, multikulturelles Team
Damals waren die Deutschen schon auf dem Weg zum hässlichen Verlierer. Wenn die Brasilianer tanzten, dann stehe die deutsche Mannschaft da „wie Kühlschränke“, klagte Bundestrainer Berti Vogts über die deutsche Horrorshow bei der WM 1998. Es war der Tiefpunkt, die Stunde Null des deutschen Fußballs.
2004 wurde Jürgen Klinsmann Trainer. Er war ein eher gutbürgerlicher, kosmopolitischer Typ, ebenso wie sein damaliger Asssistent Joachim Löw und der Teammanager Oliver Bierhoff. Ihnen war eines ganz klar: Sie wollten nicht länger Darth Vader sein. Also schauten sie sich das Passspiel bei den Holländern ab, die Rekrutierung junger Migranten bei den Franzosen, die Datenanalyse und das Fitness-Training bei den Amerikanern. Löw erbte diese Mission 2006 von Klinsmann.
Er hat ein wunderbar bewegliches, multikulturelles Team geschaffen, das nur einen Fehler hat: „Sind wir das neue Holland?“, fragt der Autor Christoph Biermann. Eine Mannschaft, die immer schön spielt, aber nur mit dem Trostpreis nach Hause geht.
Den deutschen Fans schien es lange egal zu sein, wenn die Mannschaft verlor. Viele feierten sogar Niederlagen. Das neue Team war das sympathische, niemanden bedrohende Symbol, das das größere, wiedervereinigte Deutschland brauchte. 2006, nachdem die Deutschen im eigenen Land Dritter geworden waren, warteten auf der Berliner Fanmeile hunderttausende junge Leute, um ihre besiegten Helden zu feiern. Die deutschen Fans hatten das Siegen hinter sich gelassen.
Sehnsucht nach dem schönen Triumph
In einer Umfrage stimmten kürzlich nur zwölf Prozent der Deutschen der Aussage zu: „Wenn meine Nationalmannschaft verliert, dann bin ich tagelang traurig oder mitgenommen.“ Der europäische Durchschnitt lag bei 34 Prozent.
Trotzdem werden die Deutschen langsam des Verlierens ein wenig müde. Die Niederlage gegen Italien im Halbfinale der EM 2012, die durch naive Abwehrfehler verursacht wurde, war der Wendepunkt, sagt Biermann.
Das talentierteste deutsche Team aller Zeiten (meint Sonntag) muss dieses Mal gewinnen. Das wird ihm aber wahrscheinlich nicht gelingen. Spieler wie Mario Götze oder Mesut Özil sind genau jene Sorte begabter „Schönwetterfußballer“, die früher von den deutschen Teams zermalmt wurden.
Hinzu kommt, dass Deutschland das brutalste Reiseprogramm von allen Teams hat, sagt der belgische Coach Marc Wilmots. Sonntag meint nachdenklich: „Es ist verrückt: Wir haben zu viele Sachen gewonnen, die wir nicht verdient hatten. Und jetzt wird es heimgezahlt. Ich glaube, unterbewusst verdankt die Bundesrepublik dem Fußball zu viel.“
Copyright The Financial Times Limited 2014