Als Russland die Ukraine vor fast einem Jahr angriff, begann nicht nur ein Krieg um Land, sondern auch um Energie. Schon früh wurde in Deutschland die Frage gestellt, was passiert, sollte Russland die Gaslieferungen nach Europa einstellen. Infolgedessen kaufte Deutschland alles ein, was zu bekommen war – neben Gas und Öl auch Kohle. Und zwar so viel, dass zwischenzeitlich von einem „Comeback der Kohle“ gesprochen wurde.
Inzwischen fallen die Energiepreise wieder – und auch vom Kohle-Comeback scheint nur noch wenig geblieben. Darauf deuten Daten des Thinktanks Ember hin. Demnach wurde in den vergangenen fünf Monaten jeweils weniger Kohle verstromt – und die Tendenz ist weiter fallend.
Ember-Chefanalyst Dave Jones liefert auf Twitter ausführliche Begründungen hierfür. Demnach gab es im vergangenen Jahr tatsächlich einen Peak bei der Kohleverstromung. Insgesamt betrug der Kohleanteil aber nur 16 Prozent an der gesamten Stromerzeugung – ein Prozentpunkt als 2021. Der Anstieg war laut Jones in erster Linie auf fehlenden Energie aus Atom- und Wasserkraft im Sommer zurückzuführen. Der trockene Sommer 2022 sorgte für Probleme in südeuropäischen Wasserkraftwerken. Außerdem wurden in etlichen französischen Atomkraftwerken Mängel festgestellt, die daraufhin zwischenzeitlich heruntergefahren wurden. Das führte 2022 zu einem europäischen Strom-Defizit von sieben Prozent gegenüber 2021. Aufgefangen wurde das aber nicht etwa durch Kohleenergie, sondern vor allem durch Erneuerbare Energien wie Solar- und Windenergie. Kohle wurde nur zu einem Sechstel eingespeist, um die Lücke zu füllen.
Hilfreich war laut Jones außerdem, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher insgesamt 42 Prozent Strom einsparten – und damit auch Kohle. Das sei auch ein Grund, weshalb er zuversichtlich sei, dass das „Comeback der Kohle“ ausbleiben wird. Die Probleme mit Wasser- und Atomkraft lösten sich im Laufe des Jahres auf – es regnete wieder und auch die Mängel in den französischen AKW wurden behoben. Insofern seien die Schwierigkeiten als Sondereffekte zu betrachten. Außerdem schreite der Ausbau Erneuerbarer Energien voran. Die Kohle werde in künftigen Krisen kaum noch gebraucht.
„Situation besser als befürchtet“
Jones selbst dürfte das freuen. Er nennt sich auf Twitter selbst „CoalFreeDave“. Der Thinktank Ember, für den er arbeitet, setzt sich auch mit Hilfe seiner Forschung für weniger Kohleverbrauch und eine klimapolitische Wende hin zu Erneuerbaren Energien ein.
Doch auch unabhängige Energieökonomen wie Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum bestätigen die grundsätzlichen Trends und Zahlen. Löschel plädierte im Frühjahr 2022 noch selbst für eine Reaktivierung alter Kohlekraftwerke – damals „unter ganz anderen Vorzeichen“, räumt Löschel ein. „Im Frühjahr 2022 ging es darum, möglichst viel Gas einzusparen und eine Absicherung für ein drohendes Stromdefizit zu schaffen. Da bot sich die Kohle an – und das war auch die richtige Entscheidung. Im Nachhinein hat sich die Situation besser dargestellt als befürchtet“, sagt Löschel.
Bei den Beobachtungen von Ember ist zu beachten, dass der Anstieg für Solar- und Windenergie auch deshalb so hoch ausfällt, weil das Jahr 2022 im Gegensatz zum Vorjahr ein außergewöhnlich gutes Wetterjahr für die Erneuerbaren war. „Es gab viel Sonne und kräftige Stürme besonders im Frühjahr. Diese Diskussion wäre sicher für den Bericht interessant gewesen“, sagt Löschel. Insofern sei die These zwar richtig, dass 2022 ein gutes Jahr für Solar- und Windenergie gewesen sei – doch im Jahr zuvor sei es eben besonders schlecht gewesen. Das erkläre auch die mitunter deutlichen prozentualen Unterschiede zwischen den beiden Jahren, die Jones immer wieder hervorhebt.
Lager sind inzwischen aufgefüllt
Langfristig werde die Kohle ausgedient haben, glaubt Löschel. „Wenn nichts Unerwartetes mehr passiert, werden wir in den kommenden Jahren immer weniger Kohleverstromung erleben – allein durch den hohen Preis für Kohle und CO2-Zertifikate und die sinkenden Preise für Gas. Wir haben uns im vergangenen Jahr vor allem Freiräume geschaffen.“
Wie groß diese Freiräume sind, wird ebenfalls aus den Ember-Daten ersichtlich. Demnach wurden die europäischen Lager mit fast 13 Millionen Tonnen Kohle gefüllt. Ein weiteres Drittel wurde in den 26 reaktivierten Kohlekraftwerken verstromt. Die EU-Staaten kauften also deutlich mehr ein, als sie verbrauchten. Laut Ember geschah dies vor allem im Sommer, als Kohle günstiger war als Gas. Löschel führt hingegen einen deutlichen pragmatischeren Grund an. „Viele Kraftwerke wurden aus der Reserve geholt – und die mussten erst einmal ihre Lager auffüllen. Damit sich der Aufwand lohnt, braucht es eine längere Perspektive.“ Insofern sei das ein Sondereffekt.
Ob diese Lagerbestände überhaupt benötigt werden, ist allerdings fraglich. Das hänge in erster Linie vom schnellen Zubau der Erneuerbaren Energien ab. Andererseits sei der Gaspreis mittlerweile auf dem Vorkriegsniveau, so dass zunächst wieder Gas anstatt Kohle verstromt werde.