Das Lamento begleitet die deutsche Gründerszene seit Jahren: Es gebe, so klagen Vertreter der Jungunternehmen, für Start-ups in Deutschland einfach nicht genug Geld – und so sei es auch nicht verwunderlich, dass hierzulande keine neuen Facebooks oder Googles entstünden.
Am Donnerstag wurde im „Handelsblatt“ die Kritik an dem vermeintlichen Kapitalmangel für Digitalfirmen erneuert . Anlass war eine Studie, die Deutschland einen Rückgang der Gründungsaktivität bescheinigte. „Für alle, die etwas bewegen wollen, ist Deutschland unattraktiv geworden“, ließ sich FDP-Chef Christian Lindner zitieren. Die Ursache, so hieß es, sei mangelndes Fremdkapital – und der Umstand, dass Deutschland für Tech-Börsengänge nicht attraktiv genug sei. Lindner forderte daher „ein neues Börsensegment für Wachstumsunternehmen“ – dies „könnte die Kapitalbasis stärken und das sichtbarste Symbol werden, dass Deutschland wieder in den Offensivmodus wechseln will“.
Deutschland müsse „bei den Börsengängen für Start-ups deutlich attraktiver werden“, legte Markus Müschenich vom Digital-Health-Inkubator Flying Health nach. Bei dem 2017 eingeführten Einstiegssement an der Frankfurter Börse namens Scale würden etwa zu hohe Eintrittsbarrieren für Unternehmen angesetzt – so müssten sie vor dem IPO schon Gewinne schreiben und mindestens 10 Mio. Euro umsetzen.
Und CDU-Politiker Thomas Jarzombek, Start-up-Beauftragter der Bundesregierung, wünschte sich gegenüber der Zeitung von Staatsseite einen zweiten Zukunftsfonds, der um die 100 Mrd. Euro investieren solle. Der erste Fonds war im Frühjahr mit 10 Mrd. Euro gestartet.
Ist es wirklich das Geld?
Die Frage ist, ob diese Instrumente das Problem lösen können – ob es einen weiteren staatlichen Fonds braucht oder ein neues Börsensegment mit noch niedrigeren Hürden. Und ob es eigentlich wirklich das Geld ist, das einem richtig großen Start-up-Boom in Deutschland im Wege steht.
Denn eigentlich fließt gerade so viel Kapital wie nie zuvor. Allein im ersten Halbjahr wurde laut EY in deutsche Jungunternehmen die Rekordsumme von 7,6 Mrd. Euro investiert – mehr als im ganzen Jahr 2020 und drei Mal so viel wie im Vorjahreszeitraum.
Der Tech-Experte Philipp Klöckner, bekannt für seinen „Doppelgänger“-Podcast, hält die Vorschläge daher auch für nicht zielführend. „Es mangelt in Deutschland wirklich nicht an verfügbaren Wagniskapital“, sagte er Capital. Risikokapitalgeber investieren gerade „auf Rekordniveau“. Wenn nun der Staat „um jeden Preis noch stimulieren will, verzerrt dies nur den Markt oder befeuert die Überhitzung“, so Klöckner.
Mehr Staatsgeld könnte zudem zu einer adversen Selektion führen: „Wagniskapitalgeber stehen schon jetzt in erbitterter Konkurrenz um die besten Start-ups, staatliche Zuschüsse drohen als 'dumb money' in die weniger aussichtsreichen Gründungen gezogen zu werden oder könnten missbraucht werden, um erfolglosen Start-ups überflüssige Lebenszeit zu gewähren.“ Klöckner ist überzeugt: „Sowohl das Geld als vor allem auch das qualifizierte Personal wäre aber woanders besser aufgehoben.“
Vertrauensgewinn in Gefahr
Nikolas Samios, Managing Partner des Risikokapitalgeber PropTech1, stört sich an den Plänen für ein neues Börsensegment mit laxeren Regeln: Die Forderung ginge „völlig am Problem vorbei“, sagte er Capital. Bereits heute könne jedes größere Start-up, „das Lesen und Schreiben kann und einen entsprechenden Anwalt beauftragt, die simplen formalen Zulassungskriterien erfüllen“. Woran es mangele, seien „kräftige, institutionelle Investoren, die in IPOs von kleineren Unternehmen mit Firmenwerten unter etwa 500 Mio. Euro investieren“.
Vielen Fonds, die sonst als Ankerinvestoren für IPOs auftreten, sind kleine Werte an der Börse nicht liquide genug. „Das Scale-Segment erneut umzulackieren würde daran gar nichts ändern“, sagt Samios. Er wünsche sich mehr institutionelle und private Investoren an der Börse: „In Deutschland haben wir eine erschreckend schlechte Aktienanlagekultur, was sich erst ganz langsam dreht.“ Ein „noch geringer reguliertes Börsensegment würde dem notwendigen Vertrauensgewinn gegebenenfalls sogar schaden statt nützen“, so der Investor.
Auch Klöckner hält laxere Regeln für Börsengänge für gefährlich: „Weicht man die Bedingungen noch weiter auf, wird das Risiko aus hochriskanten Wetten wie Flugtaxis oder der Biotech-Forschung an Privatanleger ausgelagert. Das könnte das gerade aufkeimenden Interesse an Aktien- und ETF-Investments im schlimmsten Fall durch rasche Enttäuschungen wieder ersticken.“
Klöckner hält den vermeintlichen Gründermangel ohnehin nicht für dramatisch. Die vergleichsweise niedrige Gründungsquote hänge einfach „mit attraktiven Jobbedingungen bei Großkonzernen und dem erfolgreichen Mittelstand in der Bundesrepublik zusammen“. Entscheidend sei gar nicht, „wie viele Menschen gründen, sondern dass Start-ups und Wachstumsunternehmen ausgebildetes Personal zur Verfügung steht. Nicht jeder muss gründen.“

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