Parlamentspause in Großbritannien. Nach hektischen Wochen mit politischen Geschäftsordnungshakeleien, dem Verlust der Parlamentsmehrheit für die Konservativen sowie gescheiterten Versuchen, vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen, kann sich der Pulverdampf über Westminster erst einmal verziehen. Viele Kontinentaleuropäer schütteln angesichts des Spektakels an der Themse entweder den Kopf oder denken, dass Premierminister Boris Johnson mit seiner Strategie krachend gescheitert ist. Aber hat Johnson tatsächlich alles riskiert? Spielt er va banque?
Das scheint zu kurz gedacht. Spieltheoretisch betrachtet ist die (harte) Linie von Downing Street sowohl außen- wie innenpolitisch durchaus rationalisierbar. Die offensichtlichste Rationalisierung dieses Vorgehens betrifft die Verhandlungen mit der Europäischen Union. Das Brexiteer-Lager der Konservativen, die European Reform Group, war schon immer der Überzeugung, die Regierung müsse der EU nur deutlich machen, dass Großbritannien ungeachtet aller Folgen aus der EU austreten werde. Das reiche aus, um von den Europäern weitreichende Konzessionen zu bekommen. In der Spieltheorie wird das Vorgehen Angsthasenspiel (Chicken Game) genannt .
Auf diese Weise könnte man auch den Backstop für Irland loswerden. Dabei handelt es sich um eine Art Sicherheitsnetz für Irland: Falls Brüssel und London es in der Übergangsphase nicht schaffen, durch ein Handelsabkommen und/oder technische Lösungen die Errichtung einer physisch sichtbaren Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu vermeiden, dann bleibt ganz Großbritannien in der EU-Zollunion und Nordirland zusätzlich noch im europäischen Binnenmarkt. Der Backstop verhindert faktisch, dass Nordirland zum schwer kontrollierbaren Einfallstor für Drittland-Importe in die EU werden kann.
Schlechte Karten für die Brexit-Partei
Tatsächlich tangiert der Backstop weitreichende Souveränitätsfragen Großbritanniens. Entweder müssten die Briten Zollkontrollen in der Irischen See und damit innerhalb des Vereinigten Königreichs durchführen oder sie sind auf Dauer eingeschränkt, eigene Handelsverträge mit Drittstaaten abzuschließen. Umgekehrt würde für die EU ein Scheidungsvertrag ohne Backstop den Binnenmarkt kompromittieren und das irische Friedensabkommen von 1998 infrage stellen.
Neben dem außenpolitischen Aspekt zahlt die Verhandlungslinie des britischen Premierministers auch auf sein innenpolitisches Standing ein. Die Brexit-Partei von Nigel Farage, die bei den Europawahlen im Mai noch stärkste Kraft an der Wahlurne wurde, ist jetzt fast verschwunden. Zwar sind in einem System mit reinem Mehrheitswahlrecht auf Kreisebene Hochrechnungen von nationalen Umfragen extrem schwierig. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die Konservativen aktuell bei Neuwahlen eine eigene Mehrheit sogar ohne den bisherigen Partner der nordirischen DUP erringen könnten.
Boris Johnson könnte einen Wahlkampf unter der Überschrift „das Volk gegen ein renitentes Parlament“ führen. Das würde das Kleinhalten der Brexit-Partei vermutlich noch zusätzlich begünstigen – zumal keine andere Frage die britische Gesellschaft so sehr spaltet wie der Brexit. Nach Umfragen rangiert der EU-Austritt sogar weit vor traditionellen Parteibindungen bei Wahlentscheidungen.
Einen weiteren Vorteil bringt Johnson das britische Wahlsystem mit seinem Mehrheitswahlrecht. Das Anti-Brexit-Lager verteilt sich auf viele Parteien wie Labour, Liberaldemokraten, schottische und walisische Nationalisten sowie Grüne. Schon bei der Europawahl hatten diese Parteien zusammen deutlich mehr Stimmanteile (48,6 Prozent) als Konservative und Brexit-Partei (39,3 Prozent). Allerdings gewannen sie durch die Aufsplitterung nur 35 gegenüber 33 Mandaten für die Brexit-Befürworter. Bei nationalen Parlamentswahlen könnte die Diskrepanz noch größer ausfallen. Das nationale Wahlverfahren begünstigt die stärkste Partei wesentlich mehr, als das bei Europawahlen praktizierte Verfahren.
Boris Johnson hat ein gutes Blatt
Im anstehenden Showdown mit Brüssel und in der britischen Innenpolitik ist das Spiel von Premierminister Johnson also für diesen selbst durchaus erfolgversprechend. Johnson pokert mit einem aus Sicht seiner Wahlchancen guten Blatt. Allerdings nur solange, wie er Neuwahlen vor oder ganz ohne einen chaotischen Brexit haben kann. Neuwahlen kurz nach einem chaotischen Brexit mit Lieferengpässen, Staus an den Grenzen und einem möglichen Wiederaufflammen von Gewalt in Nordirland, wären für ihn wohl kaum ein Umfeld mit guten Wahlchancen.
Auch für die Festlegung des Wahltermins hat er bessere Karten, als man nach dem No No-Deal-Gesetz und der Ablehnung der Parlamentsauflösung vielleicht denken könnte. Man darf hier nicht vergessen, dass die EU als Voraussetzung für eine neuerliche Fristverlängerung Neuwahlen oder ein zweites Referendum genannt hat. Sprich, ohne gesetzten Wahltermin liefe auch der Antrag auf Fristverlängerung am 19.10. aus dem Gesetz ins Leere, wenn die EU ihre Haltung nicht noch kurzfristig ändert.
Ohne Frage spielt Johnson va banque. Aber er spielt dabei Poker, nicht Roulette.
David Milleker ist Senior Economic Advisor bei Union Investment, einer der größten deutschen Fondsgesellschaften. Sie gehört zur genossenschaftlichen Finanzgruppe. Hier lesen Sie weitere Kolumnen von David Milleker