Der September entwickelt sich für US-Präsident Joe Biden mehr und mehr zum Krisenmonat. Während er um eine zweite Amtszeit kämpft, leiten die Republikaner im Repräsentantenhaus erste Schritte für ein Impeachment-Verfahren gegen ihn ein. Kurz darauf wird sein Sohn Hunter Biden angeklagt. Und über allem schwebt die Aussicht auf einen drohenden Regierungsstillstand zum Monatsende.
Als wäre das nicht genug, bringt nun auch noch ein historischer Streik in der Automobilindustrie den 80-jährigen Demokraten in Bedrängnis. Vor genau einer Woche hatten Beschäftigte der drei größten amerikanischen Autohersteller erstmals gleichzeitig ihre Arbeit niedergelegt – eine knifflige Situation für das Weiße Haus.
Einerseits rühmt sich Biden als „Gewerkschafts-Joe“ und ist bei den kommenden Wahlen auf die Unterstützung der Arbeiter angewiesen. Auf der anderen Seite schadet der Streik in einem der wichtigsten Industriesektoren der US-Wirtschaft, was der „Bidenomics“-Kampagne äußerst ungelegen kommt. Und zu allem Überfluss kündigt ausgerechnet sein größter Konkurrent – Ex-Präsident Donald Trump – als Erster einen Streikbesuch an.
Historischer Streik
In der Nacht zum vergangenen Freitag waren die Angestellten der „Big Three“ – General Motors, Ford und Stellantis mit der Marke Chrysler – gleichzeitig aus ihren Werken marschiert. Organisiert wird der Streik von der Gewerkschaft „United Auto Workers“ (UAW). Diese verlangt angesichts der hohen Profite der Autobauer deutliche Lohnerhöhungen von rund 40 Prozent über eine Spanne von vier Jahren. Eine Erhöhung, die UAW zufolge dem Einkommensanstieg der Top-Manager der „Big Three“ entspricht. Viele Arbeiter argumentieren zudem mit den mageren Löhnen und Leistungskürzungen, die sie nach der Finanzkrise 2008 hinnehmen mussten.
Es sind Forderungen, die Präsident Biden unterstützt. „In den letzten zehn Jahren haben die Autohersteller Rekordgewinne erzielt (...), die nicht gerecht mit den Arbeitnehmern geteilt wurden“ erklärte Biden am ersten Streiktag. Niemand wolle einen Streik, fügte er hinzu, aber er verstehe den „Frust“ und respektiere das „Recht der Arbeitnehmer, von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen.“ Nach Gewerkschaftsangaben beteiligen sich aktuell 12.700 der von der UAW vertretenen 150.000 Beschäftigten an dem Streik. Betroffen sind ein General-Motors-Werk in Wentzville (Missouri), ein Stellantis-Werk in Toledo (Ohio) sowie eine Fabrik von Ford in Wayne (Michigan).
Doch die UAW droht bereits mit einer Ausweitung der Proteste. Bislang seien die drei großen Autobauer laut der Gewerkschaft in ihrem Angebot nicht über 20 Prozent hinausgegangen. Auch bei anderen Forderungen wie etwa zusätzlichen Urlaubstagen stocken die Gespräche. „Wenn wir keine besseren Angebote bekommen (...), werden wir das Ganze noch weiter verstärken“, warnte UAW-Präsident Shawn Fain im TV-Sender „CBS“. Für die amerikanische Wirtschaft wären die Folgen eines sich ausweitenden Streiks fatal. Experten von Goldman Sachs schätzen, dass das BIP-Wachstum für jede weitere Streik-Woche, um einen Zehntelprozentpunkt geringer ausfallen könnte. Von der steigenden Inflation auf dem Automarkt ganz zu schweigen.
Knifflige Lage für den „Gewerkschafts-Präsidenten“
„Wir sind bereit, alles zu tun, was wir tun müssen“, betonte Fain. Die Gewerkschaftsmitglieder hätten „die Nase voll“. Für Biden, der sich selbst gerne als „gewerkschaftsfreundlichster Präsident der Geschichte“ bezeichnet, gerät der Streik mitten in das Spannungsfeld zwei seiner Hauptziele: Die Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen der amerikanischen Industriearbeiter sowie die Umstellung auf saubere und nachhaltige Energie. Auf Wahlkampfbühnen im ganzen Land versucht der Demokrat, die Menschen zu überzeugen, dass diese Ziele sich nicht ausschließen müssen – sondern Hand in Hand gehen können. Doch der inzwischen eine Woche andauernde Autostreik macht deutlich, wie groß die Hürden für seine Vision sind.
Seit seiner Zeit im Senat pflegt Biden engen Kontakt zu Gewerkschaften wie der UWA. Seine eigene bescheidene Herkunft und sein Einsatz für die Anhebung des Mindestlohns haben ihn im Laufe der Jahre zu einem Sympathieträger für Arbeitnehmer gemacht und geholfen, Teile des industriell geprägten Mittleren Westens gegen Trump zu gewinnen. Teile seiner grünen „Bidenomics“-Agenda haben die Beziehungen jedoch in letzter Zeit frösteln lassen.
So kritisiert die Gewerkschaft den Vorstoß der Biden-Regierung, von benzinbetriebenen Autos auf Elektrofahrzeuge umzusteigen, weil sie Arbeitsplätze in Gefahr sieht. Zwar betont Biden in Pressekonferenzen immer wieder, dass die „grüne Transformation“ nicht auf Kosten der Arbeitnehmer in der Automobilindustrie gehen darf. Dabei verweist er stets auf die Milliarden an Subventionen in seinem „Inflation Reduction Act“, die allein zur Schaffung neuer Arbeitsplätze gedacht sind. Die UAW argumentiert jedoch, dass die kostenintensive Umstellung kurzfristig die Verhandlungen mit den großen Autokonzernen erschwert.
Dass die Gewerkschaft Biden in der Bringschuld sieht, zeigt sich auch daran, dass sie bislang vermieden hat, im Wahlkampf aktiv zu werden. Im Gegensatz zu anderen führenden Gewerkschaften unterstützt die UAW seine Kandidatur nicht. Einige Gewerkschaftsmitglieder werfen dem Demokraten zudem vor, sich in Michigan nicht öffentlich genug für ihre Seite einzusetzen. Ein Angebot des Präsidenten, zwei seiner hochrangigen Vertreter zu Gesprächen nach Detroit zu schicken, wurde abgelehnt.
Trump erhöht Druck auf Biden
Während im Weißen Haus noch eifrig über die nächsten Schritte diskutiert wird, macht die Konkurrenz Nägeln mit Köpfen. Statt an der zweiten Fernsehdebatte der Republikaner teilzunehmen, kündigte Frontrunner Donald Trump an, am kommenden Mittwoch nach Detroit zu reisen, um eine Rede vor Mitgliedern der Autogewerkschaft zu halten. Ein äußerst unwillkommener Besuch aus Sicht des UAW-Präsidenten, der eine mögliche Wiederwahl Trumps als „Katastrophe“ bezeichnet hatte. Die Veranstaltung sei ein Affront gegen alles, wogegen die Bewegung kämpft, einschließlich des Kampfes gegen „die Milliardärsklasse und eine Wirtschaft, die Leute wie Donald Trump auf Kosten der Arbeitnehmer bereichert“, erklärte Fain.
Auch Bidens Wahlkampfteam kritisierte die Ankündigung als „vorgespielt und unaufrichtig“. „Donald Trump reist nächste Woche nach Michigan, um die Arbeiter in Michigan anzulügen und so zu tun, als hätte er nicht seine gesamte gescheiterte Präsidentschaft damit verbracht, sie auf Schritt und Tritt zu verraten“, wetterte Kampagnensprecher Ammar Moussa in einer Erklärung.
Gleichzeitig wächst der Druck auf den Präsidenten, selbst vor Ort Stellung zu beziehen. Im progressiven Lager der Demokraten wird laut die Sorge geäußert, dass Biden im Werben um Stimmen aus der Arbeiterklasse Gefahr läuft, von Trump überboten zu werden. Auf dem Capitol Hill in Washington begrüßten mehrere demokratische Abgeordnete, darunter Rashida Tlaib aus Michigan, die Idee eines Vor-Ort-Besuches des Präsidenten. „Man muss auf der Seite der Menschen stehen, nicht der Profite“, sagte die Tochter eines UAW-Mitgliedes im Interview mit „MSNBC“.
Der Streik in der Autoindustrie bringt neuen Zündstoff in den heißer werdenden Wahlkampf. Obwohl Biden 2020 in Michigan gegen Trump gewonnen hat, gilt der Bundesstaat noch immer als sogenannter Swing State. Und die aufblühenden Proteste unter den Arbeitern sind keine Garantie dafür, dass er 2024 erneut an die Demokraten gehen wird. Im Gegenzug würde ein Trump-Sieg in Michigan die Republikaner darin bestärken, dass ihre Kampagne der systematischen Vernachlässigung von Arbeitern ankommt. Eine Welle, die auch in benachbarten Staaten des Mittleren Westens wie Ohio oder Pennsylvania für Biden zu Problemen führen könnte.
Je länger der Streik andauert, desto wichtiger wird es für den Präsidenten daher sein, eine eigene starke Botschaft zu verbreiten. Eine Botschaft, die der Autogewerkschaft versichert, dass er ihnen den Rücken freihält und die beide Parteien zurück an den Tisch bringt. Wenn Biden es schafft, als Streitschlichter aufzutreten und sich den Support der UAW zu sichern, könnte der Krisenmonat September am Ende doch noch etwas Positives für ihn bereithalten.
Dieser Text erschien zuerst auf stern.de.