Die letzte Berlinale, die richtig stattfand, hätte in einer Katastrophe enden können. Während in Berlin Ende Februar 2020 noch Hunderttausende Cineasten und Filmbranchenleute aus aller Welt ausgelassen im Kino zusammensaßen und die Nächte in Filmpartys versumpfen ließen, entfaltete sich in Bergamo die erste tödliche Coronawelle in Europa. Im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen fand der Straßenkarneval statt, der am Anfang vieler Infektionsketten stand. Von Bad Ischgl in Österreich verbreitete sich die Seuche quer durch Europa. Nur das Festival in Berlin tat noch so, als gehe das neuartige Virus es nichts an. Und es ist ein Wunder, dass es – soweit bekannt ist – nicht zum Superspreader-Ereignis wurde.
Rückblickend war die Berlinale 2020 die letzte große Kulturveranstaltung der alten Zeitrechnung. Sie war auch das letzte Filmfestival alten Typs, nur haben die Verantwortlichen tragischerweise keine Idee davon, wie ein Filmfest neuen Typs aussehen könnte. Das zeigt sich, wenn an diesem Donnerstag die Berlinale – trotz neuer Coronawelle, trotz Reiseeinschränkungen, trotz völlig neuer Verhältnisse im Filmgeschäft – erstmals seit 2020 wieder als klassisches Festival mit Publikum in Kinos beginnt.
Die Berlinale müsse präsent sein, um zu überleben, haben die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Festivaldirektor Carlo Chatrian in den vergangenen Tagen unisono erklärt. Aber ob sie so überleben kann, bleibt trotzdem fraglich.
Schon vor Corona einen schweren Stand
Denn die Berlinale hatte schon vor Corona einen schweren Stand. Die Altmeister des europäischen Kinos gingen lieber nach Cannes. Die Oscar-Kandidaten aus Amerika gingen lieber nach Venedig. Die Streaming-Revolutionäre brauchten teilweise gar kein Festival mehr.
Immer öfter verbreitete sich in Berlin das Gefühl, als bekomme das hiesige Fest – dass sich immer noch in einer Reihe mit den beiden anderen Großen sieht – nur die B- und C-Ware. Sie hatten hier immer kämpfen müssen im Vergleich zu den beiden glanzvolleren Locations im Süden. Doch in den Nullerjahren gab es Zeiten, in denen Berlin den ihrerseits verkalkten Konkurrenten den Rang ablaufen konnte, mit Coolness, neuen Ideen, Gegenwartsbezogenheit.
An dieser Stelle muss erwähnt werden, welch wichtige Funktion die Berlinale immer noch für die deutsche Filmbranche hat. Obwohl sie dank Streaming eine Welle der Professionalisierung und der Prosperität erlebt, ist sie auf doppelte Weise immer noch zu klein und unsichtbar. Erstens als Wirtschafts- und Kulturfaktor auf nationaler Ebene. Zweitens im Vergleich zu den selbstbewussten Filmindustrien anderer Länder wie Frankreich, Großbritannien, Italien.
Die Berlinale – obwohl ein genuin internationales Festival – war immer eine einmalige Chance auch für die deutsche Kinobranche, sich zehn Tage im Jahr Sichtbarkeit zu verschaffen: Bei der deutschen Politik, der Öffentlichkeit, dem Publikum. Und, eben weil die Filmwelt in dieser Zeit von überall auf Berlin blickte – auch im Kreis des internationalen Kinos.
Deshalb geht die Bedeutung des Berliner Filmfest weit über diejenigen hinaus, die in diesen Tagen in die Kinos streben oder die bei den Partys eingeladen sind. Es war auch immer eine Gelegenheit für die hiesigen Produzenten und Künstler, über sich hinauszuwachsen, eine Feier des Filmstandorts Deutschland.
Ein Filmfest auch für Zuschauer
Und im ungleichen Kampf mit Cannes und Venedig hat Berlin stets den einen Trumpf ausgespielt: Es blieb das einzige der großen Festivals, das mitten in der Wirklichkeit stattfand. Knapp eine halbe Millionen Zuschauer kamen in den vergangenen Jahren jeweils in die Kinos, die Berlinale ist – anders als Cannes und Venedig – ein Festival in der Stadt und für die Menschen. In Italien haben Normalbesucher nur sehr eingeschränkt Zugang zu den Vorstellungen, in Frankreich so gut wie gar nicht.
In dieser Hinsicht war die Berlinale immer das modernere, das stärker der Zukunft zugewandte Festival und in gewisser Hinsicht damit auch ein Vorbild neuerer und erfolgreicher Filmveranstaltungen wie Sundance oder Toronto. Und viele internationale Produzenten wussten das zu schätzen und brachten ihre Filme gerade deshalb her: Weil sie die Produktionen das erste Mal an interessierten Zuschauern testen konnten und eben nicht nur an einem oft übelgelaunten Fach- und Pressepublikum.
Aber eben diesen großen Vorteil kann die Berlinale unter Corona-Bedingungen kaum ausspielen. Zwar werden auch dieses Jahr Publikumstickets für die Filme verkauft – unter Coronabedingungen mit 50-Prozent-Besetzung, Masken und 2G-plus-Regel. Doch seine Wirkung und seinen Charme kann so ein Fest nur entfalten, wenn die Menschen nach den Vorführungen (und mit den Künstlern) in großen Trauben zusammenstehen und diskutieren dürfen, wenn es ein gesellschaftliches Ereignis mit Empfängen, Einladungen, geheimen Sausen sein darf, wenn die Leute aus aller Welt unbeschwert anreisen.
All dies wird nicht stattfinden. Viele Filmcrews werden nicht vor Ort sein, viele Kinobesucher werden trotz der strengen Regeln aus Angst vor Infektion nicht in die Vorführungen kommen, viele werden nicht reisen können oder dürfen und fast alle sozialen Interaktionen sind ohnehin gestrichen. Ein Branchentreff wird die Berlinale unter den neuen Regeln zudem auch nicht sein können, der wichtige Filmmarkt wurde komplett in den virtuellen Raum verlegt, der Großteil der Fachveranstaltungen findet nicht statt.
Aufgebot treuer Festivalregisseure
Es hat einen Wert, wenn trotzdem ein Rest klappt. Das Filmfest in Venedig hat das zweimal unter Pandemiebedingungen mit überzeugenden Programmen vorgeführt. Doch dieses überzeugende Programm scheint der Berlinale dieses Jahr auch zu fehlen. Jedenfalls kann das Fest nicht mit vielversprechenden Namen, langerwarteten Filmen großer Regisseure oder gar Auflauf am (trotz der Pandemie ausgelegten) roten Teppich von sich reden machen.
Das Wettbewerbsprogramm sieht – von Ausnahmen abgesehen – aus, wie ein mattes Aufgebot treuer Festivalregisseure (12 der 18 waren schon mal da), es fällt auf ein Übergewicht des frankophonen Films, die weitgehende Abwesenheit der USA und die schwache Präsenz der außerwestlichen Welt. Der eine als Highlight angekündigte Film soll in Cannes und Venedig bereits abgelehnt worden sein, einen weiteren soll die eigene Regisseurin für misslungen halten.
„Ich bin nicht traurig darüber, dass wir im Wettbewerb und bei Encounters neuen, jungen Stimmen des Weltkinos eine Plattform geben“, versucht Festivaldirektor Chatrian aus der Not eine Tugend zu machen. Doch gerade, wenn die Berlinale das Fest der Geheimtipps, des Unbekannten und der Entdeckungen sein wollte, wäre sie auf das angewiesen, was in diesem Jahr weitgehend fehlt: Mundpropaganda, Buzz, Events, die diesen erst entstehen lassen.
Mehrfaches Wagnis
Die grundsätzlichen Fragen, vor denen die großen Festivals stehen, betreffen Cannes und Venedig in ähnlicher Weise: Dass Streaming den Wert des alten Kinos relativiert hat; dass die Welt der Autorenfilmer und Großstudios, der die Festivals entstammen, nicht mehr existiert; dass digitale Begegnungen die physische Interaktion ergänzen muss; dass „Film“ nicht mehr so scharf von Serien, Spielen, Youtube-Clips getrennt werden sollte.
Doch die beiden Konkurrenten haben es immerhin geschafft, sich in der Pandemie zu behaupten, so dass sie eine Chance haben, hernach diesen Fragen zu begegnen. Die Berlinale hingegen sieht sich der realen Gefahr ausgesetzt, dass sie aus der Pandemie so geschwächt hervorgeht, dass sie sich den Problemen kaum mehr stellen kann.
Es ist also ein mehrfaches Wagnis dieses Jahr: Dass es keine Infektionsherde in den Kinos gibt; dass aus dem schwach wirkenden Programm doch einige Entdeckungen hervorgehen; dass die nationale Öffentlichkeit und die internationale Filmwelt Berlin nicht vergessen. Und dann sollten Staatsministerin Roth und die Verantwortlichen der Berlinale gleich nach dem Festival dieses Jahres damit beginnen, an einer zukünftigen Berlinale zu arbeiten. Das erste Filmfest der neuen Zeit. Damit die Berlinale nicht nur überlebt – sondern dass sie sich an die Spitze der Bewegung setzt.
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