Der Wirtschaftshistoriker und Ökonom Adam Tooze hat die Staaten der Eurozone dazu aufgerufen, den größten Teil ihrer zusätzlichen Ausgaben im Kampf gegen die Corona-Krise durch die Europäische Zentralbank finanzieren zu lassen. „Wir machen das über die Notenbank. Das ist nicht das Ende der Welt. Am besten machen wir es wie die Briten – die Regierung hat einfach ein Konto bei der Bank of England“, sagte Tooze in einem großen Gespräch über die Folgen der Corona-Krise Capital (Ausgabe 6/2020, EVT 20. Mai). Zwar sei eine gemeinsame Aufnahme von Schulden durch die Eurostaaten der bessere Weg, dieser scheitere aber vorerst am Widerstand der Niederländer und Deutschen, kritisierte Tooze. Solange die Eurostaaten Instrumente wie Corona- oder Eurobonds nicht zur Verfügung hätten, bleibe für die kurzfristige Finanzierung von Krisenhilfen und Konjunkturpakten nur die Notenbanken, so Tooze.

Die Vorschläge des britischen Ökonomen, der aktuell an der Columbia University in New York lehrt und enge Beziehungen nach Deutschland und in die Bundesregierung unterhält, dürften in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit als Provokation erscheinen. Tatsächlich fordert er jedoch nur, dass Europa in der Krise nur ähnliche Instrumente nutze wie sie die USA und Großbritannien bereits seit vielen Jahren erproben. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts , das wegen der bereits laufenden Anleihekäufe indirekt einen tiefgreifenden Konflikt mit der Europäischen Zentralbank und dem Europäischen Gerichtshof eröffnet, nannte er „eine Katastrophe“. „Für mich demonstriert der Fall, dass die EZB tatsächlich ein neues, zeitgemäßes Mandat braucht, das den deutschen Nostalgikern schwarz auf weiß ausbuchstabiert, welche Herausforderungen heute auf eine Zentralbank zukommen.“
Tooze äußerte die Erwartung, die Corona-Pandemie werde die Wirtschaftsordnung weltweit grundlegend umwälzen. Unternehmen und Staaten würden auf absehbare Zeit direkt oder indirekt von der Finanzierung durch die Notenbanken abhängen, entweder durch den Ankauf von Anleihen oder durch ultragünstige Kreditprogramme. Dies sei kein Ende des Kapitalismus, aber die Wirtschaftsordnung werde sich stark dem chinesischen Modell annähern. „Es muss nicht heißen, dass wir alles einfrieren und den Fortschritt beenden. Die Chinesen machen es vor, die betreiben wenn nötig von oben ganz radikale Strukturveränderungen. Es muss auch nicht heißen, dass alles Kapital nur noch in sinnlose Projekte fließt und Zombie-Firmen entstehen. Aber ja, in die heile Welt der sozialen Marktwirtschaft der 50er-Jahre kommen wir nicht zurück.“
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