Mit etwas eckigen Bewegungen tritt der junge Mitarbeiter an den Cafétresen, greift nach einem Materialmuster und streckt es dem Besucher hin. „Sehen Sie? Wirkt wie Holz, ist aber eine Folie.“ Der Mann arbeitet für den US-amerikanischen Technologiekonzern 3M. Doch nicht er selbst, sondern sein Avatar führt durch 3M Home: eine digitale Welt, in der das Unternehmen in unterschiedlichen Umgebungen seine Produkte präsentiert. Im virtuellen Café beispielsweise können Gastronomen oder Architekten sehen, wie Verkaufsräume mithilfe von Dekorfolien gestaltet werden können. Um dorthin zu gelangen, muss der Besucher lediglich eine Datenbrille aufsetzen und zwei Controller in die Hand nehmen.
Für Dirk Lange ist 3M Home mehr als ein digitaler Showroom: „Wir treffen uns hier mit Kunden, um Produkte und Prozesse weiterzuentwickeln oder neue Anwendungen für bestehende Technologien zu finden“, sagt der Geschäftsführer für Zentraleuropa mit Sitz in Neuss.
Bei Verbrauchern ist 3M unter anderem für Haftzettel der Marke Post-it und Scotch-Klebeband bekannt. Den größten Teil des Umsatzes von zuletzt mehr als 35 Mrd. Dollar macht der Konzern allerdings mit Produkten für die Industrie: von Klebstoffen über Schutzhelme bis hin zu Licht leitenden Folien. Weltweit hält das Unternehmen mehr als 25.000 Patente. „Ziel ist es, 30 Prozent des Umsatzes mit Produkten zu machen, die jünger als fünf Jahre sind“, sagt Lange.
Viele Anstöße für Innovationen kämen aus dem Unternehmen selbst. Deutschland ist der größte Entwicklungsstandort außerhalb der USA. „Besonders wichtig ist jedoch der Austausch mit unseren Kunden“, so Lange. Im Schnitt 8000-mal pro Jahr empfängt der Konzern daher in seinem „Customer Innovation Center“ in Neuss Anwender, um gemeinsam über Produkte und Prozesse der Zukunft zu diskutieren.
Es sei denn, es herrscht eine Pandemie. Nach den ersten Coronafällen vor zwei Jahren wurde das Programm heruntergefahren. „Wir mussten die Art, wie wir Innovationen hervorbringen, neu erfinden“, sagt Lange. Ausgestattet mit einem sechsstelligen Budget, stellte Projektleiterin Verena Birkenbach-Schulz ein 20-köpfiges Team zusammen – und kam schnell auf das Thema Virtual Reality.
Rund 800 digitale Treffen in 3M Home
Statt in einem Labor oder Besprechungsraum treffen sich Verkehrsplaner und 3M-Experten zum Beispiel auf einer simulierten Straßenkreuzung, wo sie über Fahrbahnmarkierungen, reflektierende Poller und Verkehrsschilder diskutieren. Vertreter von Farbherstellern besuchen eine virtuelle Fabrikhalle, um Anforderungen an Lackierpistolen oder Atemschutzmasken zu besprechen. Und Dentaltechniker klicken sich in eine überdimensionale Mundhöhle, wo sie sich im Angesicht zigfach vergrößerter Zähne über Füllungen oder Kieferabdrücke austauschen. Bei Bedarf mischen sich 3M-Experten aus anderen Regionen als Avatare unter die Gruppe.
„Die größte Herausforderung war es, das Kundenerlebnis möglichst realistisch umzusetzen“, erzählt Projektleiterin Birkenbach-Schulz. Die Nutzer sollen das Gefühl haben, leibhaftig vor Ort zu sein. Und schnell musste es gehen: Im September 2020 war eine Pilotversion fertig, die mit Kunden getestet wurde. Seither haben rund 800 digitale Treffen in 3M Home stattgefunden.
„Sobald es möglich ist, wollen wir unsere Kunden natürlich wieder persönlich treffen“, sagt Geschäftsführer Lange. Die virtuellen Räume würden jedoch ein festes Element bleiben – nicht zuletzt, weil die Kosten für Begegnungsstätten in der digitalen Welt erheblich niedriger sind als in der realen. Zurzeit werde 3M Home in Deutschland und Italien genutzt, so Lange. Seine Kollegen in Frankreich und Russland möchten bald schon nachziehen. „Wir arbeiten daran, 3M Home nun global auszurollen.“