Otmar Issing ist wie viele andere Deutsche alarmiert über den Anstieg der Inflation auf ein 40-Jahres-Hoch und besorgt über die „verfehlte“ Reaktion der Europäischen Zentralbank (EZB). Doch da Issing einer der Gründerväter des Euro ist, haben seine warnenden Worte mehr Gewicht als die seiner meisten Landsleute.
Issing war der erste Chefvolkswirt der EZB bei ihrer Gründung 1998. Seiner Meinung nach leidet die EZB unter einer „Fehldiagnose“ der Faktoren, die hinter dem Preisanstieg stehen. Sie lebe „in einer Fantasiewelt“, die das Risiko einer außer Kontrolle geratenden Inflation herunterspiele. „Die EZB hat massiv dazu beigetragen, dass sie nun in dieser Falle gefangen ist, weil wir uns auf die Gefahr einer Stagflation zubewegen", sagt der heute 86-Jährige, dem zugeschrieben wird, die Verwendung von Geldmengengrößen durch die Zentralbank zur Festlegung der Zinspolitik geprägt zu haben.
Seine Kritik an einer EZB, die mit einer Anhebung der Leitzinsen zu lange warte, ist Ausdruck einer breiteren und heftigen Debatte, die in Deutschland und in weiten Teilen des 19 Länder umfassenden Euroraums geführt wird: Wie schnell sollte die EZB ihre seit acht Jahren betriebene ultralockere Geldpolitik – einschließlich negativer Zinsen und Anleihekäufe im Wert von 4,9 Mrd. Euro – tatsächlich beenden?
Hatte die EZB in den vergangenen zehn Jahren Mühe, die Inflation auf ihr Zwei-Prozent-Ziel zu bringen, sieht sie sich jetzt mit dem gegenteiligen Problem konfrontiert. Die Verbraucherpreise sind in die Höhe geschossen, seit sich die europäische Wirtschaft von der pandemiebedingten tiefen Rezession erholt. Im März erreichte die Inflation in der Eurozone einen neuen Rekordwert von 7,5 Prozent.
Schlafender Drache
„Die Inflation war ein schlafender Drache; dieser Drache ist nun erwacht“, sagt Issing der „Financial Times“ in seinem Haus in Würzburg. Der EZB-Rat berät diese Woche in Frankfurt darüber, ob er die geplante schrittweise Rücknahme der Anleihekäufe im dritten Quartal beschleunigen soll. Einige der EZB-Politiker sprachen sich auf der Sitzung im vergangenen Monat für ein früheres Ende der Anleihekäufe aus, um den Boden für eine Zinserhöhung im Sommer zu bereiten.
Viele Zentralbanken, darunter die US-Notenbank und die Bank of England, haben ihre Anleihekäufe bereits eingestellt und damit begonnen, die Leitzinsen anzuheben.
„Es ist offensichtlich, dass die EZB spät reagiert, während die US-Notenbank möglicherweise noch stärker hinterherhinkte", sagt Issing, der seit seinem Ausscheiden aus der EZB 2006 als Präsident das Center for Financial Studies an der Goethe-Universität in Frankfurt leitet.
Seine ehemaligen EZB-Kollegen erwarten, dass viele der Faktoren, die die Preise für Energie, Lebensmittel und andere Rohstoffe in die Höhe treiben, Ende dieses Jahres zügig abklingen werden, wodurch die Inflation bis 2024 wieder unter zwei Prozent sinken könnte.
Allerdings macht Issing geltend, dass diese Annahme das Risiko außer Acht lässt, dass die Pandemie und der Ukrainekrieg die Inflation weiter in die Höhe treiben werden, da sie die Globalisierung der letzten 30 Jahre rückgängig machten. Folglich werden die Spannungen im Handel zunehmen, Unternehmen werden ihre Lieferketten widerstandsfähiger machen und Europa wird seine Abkehr von fossilen Brennstoffen beschleunigen.
„Die EZB verlässt sich auf ihr Prognosemodell, und dieses Modell kann nicht die richtigen Signale geben, weil es auf der Vergangenheit und zyklischen Erfahrungen beruht – und die Pandemie hat keinen zyklischen Abschwung verursacht", sagt Issing. „Man braucht einen viel umfassenderen Ansatz, um die Inflation in einer Zeit des Strukturwandels zu erklären. Wenn man eine Fehldiagnose stellt, hat man natürlich auch eine fehlgeleitete Politik.“
Gift für die Wirtschaft
Auch andere deutsche Finanzgrößen haben ihre Kritik an der EZB verschärft. Der Chef der Deutschen Bank, Christian Sewing, sagte vergangene Woche, die steigende Inflation sei „Gift für die Stabilität unserer Wirtschaft und Gesellschaft“. Die EZB müsse „dringend“ handeln.
Axel Weber, der scheidende Vorstandsvorsitzende der UBS und frühere Chef der Bundesbank, sagte dem „Handelsblatt“, es sei „unbegreiflich“, dass die EZB so lange brauche, ihre Politik zu ändern. Die „Bild“-Zeitung nennt EZB-Präsidentin Christine Lagarde neuerdings „Madame Inflation“.
Die Deutschen haben eine tiefsitzende Angst vor Geldentwertung, was Issing „auf die Hyperinflation in den 1920er Jahren und die Währungsreform in den 1940er Jahren“ zurückführt. „Sie ist quasi in den Genen der Menschen verankert.“ Aber die Bedenken, so Issing, seien „nicht nur bei den Deutschen pathologisch, was die Inflation angeht –„das kann man in allen Ländern beobachten".
Mehrere EZB-Politiker – darunter der Chefvolkswirt Philip Lane – verweisen darauf, dass sie nur wenig gegen die externen Faktoren ausrichten können, die gerade die Energiepreise in die Höhe treiben. Sie fürchten, eine verfrühte Anhebung der Zinssätze könnte einen schweren Abschwung auslösen – vor allem, wenn der Krieg in der Ukraine die Öl- und Gaslieferungen von Russland nach Europa unterbricht.
Lagarde und Lane haben beide gesagt, dass die EZB sogar ein „neues Instrument“ einführen könnte, um Länder zu unterstützen, die bei steigenden Zinsen mit einem drastischen Anstieg ihrer Kreditkosten zu kämpfen haben. Ihr Stab arbeitet bereits an einem solchen „Kriseninstrument“, das bei Bedarf gezielte Käufe von Staats- oder Unternehmensanleihen vornehmen könnte.
Wohl räumt Issing ein, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt, die Zinsen auf ein hohes Niveau zu heben“. Er meint jedoch, dass die EZB ihre Strategie der Anreize schon zu lange fortgeführt habe. Im Angesicht des gestiegenen Wachstums, steigender Inflation und der auf ein Rekordtief gesunkenen Arbeitslosigkeit sei dies „sehr schwer zu rechtfertigen“. „Die EZB lebt in der Illusion, diese Politik ohne negative Folgen fortsetzen zu können“, sagt er. „Sie wäre in einer besseren oder zumindest weniger schlechten Situation, hätte sie früher mit der Normalisierung ihrer Politik begonnen. Der Krieg sollte von dieser Tatsache nicht ablenken.“
Die Aussicht auf eine „stagflationäre“ Lage mit steigender Inflation und nachlassendem Wachstum sei „die schlechteste Kombination“ für eine Zentralbank überhaupt, meint Issing, der im Vergleich die Reaktionen der Währungshüter auf die beiden Ölschocks der 1970er Jahre heranzieht. „Die Bundesbank versuchte, die Inflation einzudämmen, und die Folge war eine moderate Teuerung und eine leichte Rezession“, so Issing, der 1990 zur Bundesbank gekommen war. Aber „die US- Notenbank wartete zu lange“, und die USA hatten „zweistellige Inflationsraten und eine sehr schwere Rezession“.
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