Mitten in West Sussex, in den idyllischen Hügeln Südenglands, hockt Mark Court im Kittel vor einem Auto, das fast eine halbe Million Euro kostet, und bemalt es mit roter Farbe. Seine Hände hat Court mit Kreide eingerieben, damit sie nicht so leicht abrutschen. Immer wieder tunkt er den Pinsel in einen Farbtopf. Zieht ihn wieder heraus. Tropft die rote Farbe auf einer Metallplatte am Boden ab. Und malt weiter. Eine einzige rote Linie, die sich an der gesamten Flanke des Autos entlangzieht. Eine Linie, die gerade sein muss, auf einem Untergrund, der alles andere als gerade ist.
Es ist ein schwarzer Rolls-Royce Dawn, das teuerste Cabrio der Welt, das hier in der Fabrik in Goodwood steht. Und Mark Court ist der Mann, der die „Coachline“ malt, den Zierstreifen, den sich jeder Kunde dazubestellen kann. Woran denkt er, wenn er malt? „Ach, das wollen Sie nicht wissen“, sagt Court im breiten Englisch der britischen Arbeiter. Dann lacht er laut. „Am liebsten denke ich an den FC Liverpool.“
Jedes Auto ein Einzelstück
Court, der früher Schilder für englische Pubs malte, ist selbst eine Art Aushängeschild: Er wird immer dann vorgezeigt, wenn die BMW-Tochter Rolls-Royce Motor Cars ihre Liebe zur Tradition und zum alten Handwerk demonstrieren will. Court steht für ein Prinzip, mit dem es der Luxusmarke gelungen ist, auch in Zeiten von Tesla und Digitalisierung Verkaufsrekorde zu feiern: Jedes Auto ist individuell, es gibt eigentlich nur Einzelstücke. Die Orientierung am Kundenwunsch, die das Mantra der digitalen Welt ist, wird beim Traditionalisten Rolls-Royce auf die Spitze getrieben.
„Bespoke“ ist in der Branche das Wort für dieses Angebot: maßgeschneidert. Der Käufer kann sich jede Farbe wünschen, das Fell einer mongolischen Bergziege für den Beifahrersitz verlangen oder seine eigene Kunstkollektion neben dem Armaturenbrett ausstellen lassen. Wenn er will, malt ihm Court zusätzlich zur Coachline noch ein arabisches Blumenmuster auf die Motorhaube. Auf Wunsch reist er dazu auch nach Abu Dhabi und arbeitet in der Garage des Kunden.
Es ist der Weg, der die 114 Jahre alte Marke ins 21. Jahrhundert geführt hat. Denn eigentlich steht Rolls-Royce ja für dicke Ledersitze, Chauffeure in Uniform, schwere, schnurrende Zwölfzylinder, Damen mit großen Hüten und Männer im Smoking, kurz: für überbordenden Luxus, den man sehen kann. Die berühmte geflügelte Kühlerfigur, Spirit of Ecstasy genannt, ist zum Symbol für Reichtum geworden. All dies könnte deplatziert wirken in einer Welt, in der immer mehr Konzernchefs Turnschuhe tragen und der Weg von A nach B zunehmend als Dienstleistung verstanden wird, nicht mehr als Lebensgefühl.
Und doch sind die Autos beliebt wie nie. Im Jahr 2016 verzeichnete die Marke den zweitstärksten Absatz ihrer gesamten Geschichte – nach 2014. Zwar liest sich das in absoluten Zahlen weniger beeindruckend: 2016 wurden weltweit exakt 4011 Autos verkauft, das entspricht nicht einmal 0,2 Prozent der Fahrzeuge, die BMW im selben Jahr an den Mann brachte. Aber die Marke hat ihr Geld noch nie über die Masse verdient. Wer Modelle zum Preis gediegener Eigenheime verkauft, muss sich über die Menge nicht so große Gedanken machen.
Lieblingsmarke der Musiker
Noch erstaunlicher als der generelle Erfolg: Rolls-Royce hat mittlerweile eine vergleichsweise junge Kundschaft. Der durchschnittliche Käufer ist nach Angaben des Unternehmens ein Jahrzehnt jünger als noch vor sieben Jahren. Mit etwa 45 liegt er deutlich unter dem Altersschnitt anderer Luxusautohersteller. Keine andere Automarke kommt zudem häufiger in aktuellen Popsongs vor, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg herausfand, als sie die Musik-Charts der vergangenen drei Jahre daraufhin abklopfte. Das spiegelt sich im realen Konsum wider. Der US-Fernsehstar Kim Kardashian fährt einen Phantom, Justin Bieber hat einen alten Rolls, der Footballer Tom Brady einen Ghost.
Zum spektakulärsten Rolls-Royce-Auftrag aller Zeiten kam es 2014, als der Hongkonger Milliardär Stephen Hung auf einen Schlag 30 Stück des Spitzenmodells Phantom in der Langversion bestellte. Gedacht waren sie für den Fuhrpark seiner Hotels, ordern ließ Hung sie – natürlich – in extremen Sonderausführungen: Zwei der Autos sind teilweise mit Gold lackiert, ihr Markenlogo mit Diamanten besetzt.
Die Superreichen, die „Ultra High Net Worth Individuals“, wie man sie in der Marketingsprache nennt, sind nicht mehr nur alte, beleibte Männer, die über Jahrzehnte ein Vermögen angehäuft haben. „Fast alle unsere Kunden sind erfolgreiche Unternehmer, sind im Showbiz aktiv oder kommen aus den neuen Geschäftsfeldern der Digitalisierung“, sagt Torsten Müller-Ötvös, der Chef von Rolls-Royce Motor Cars. „Wir erreichen diese jüngere Klientel durch verschiedene neue Ansätze.“ Dazu gehörten neue Modelle, aber auch die „direkte Kundenansprache in den relevanten Hotspots“.
Rolls-Royce erstmals ohne Chauffeur
Müller-Ötvös sitzt im Hinterzimmer des Stands, den die Marke beim Genfer Autosalon aufgebaut hat. Genf ist eine der wenigen Messen, bei denen Rolls-Royce überhaupt ausstellt. Laute, wuselige Hallen sind ansonsten nicht der Ort, an dem das Unternehmen seine Autos präsentieren möchte.
Müller-Ötvös ist ein schlanker Mann mit elegantem grauen Haarschopf. Man kann ihn sich gut bei einem Londoner Herrenschneider vorstellen. Wenn der hemdsärmelige Maler Mark Court das eine Gesicht von Rolls-Royce ist, dann ist der Weltmann Müller-Ötvös das andere. An der Spitze des Unternehmens steht der Münchener seit acht Jahren. Er hat in dieser Zeit zwei Modelle mit auf den Markt gebracht, die für Selbstfahrer gedacht sind, also mit der jahrzehntelang vorherrschenden Idee des Chauffeur-Autos brechen: den Ghost und den Wraith. Es war ein scheinbar dezenter Schritt, der für die Marke jedoch einen gewaltigen Modernisierungsschub bedeutete. Hinzu kam, dass alle technischen Annehmlichkeiten in die Autos integriert wurden, ohne dass groß davon geredet wurde. Natürlich hat ein Rolls-Royce inzwischen WLAN, natürlich kann man am Steuer Musik streamen – aber Gott, muss man das extra erwähnen?
Spricht man Müller-Ötvös auf autonom fahrende Autos an, auf die Vision einer Welt, in der Menschen ihr Fahrzeug nicht mehr selbst steuern, dann kann es vorkommen, dass der Rolls-Royce-Chef leicht genervt reagiert. „Das gibt es für viele unserer Kunden bereits seit mehr als einhundert Jahren“, sagt er. „Auch heute beschäftigen viele von ihnen einen Chauffeur.“ Aber was, wenn die Autos künftig gar kein Lenkrad mehr haben? „Luxusautomobile werden garantiert nicht standardisiert“, antwortet Müller-Ötvös. „Es werden nicht alle Menschen in kleinen, weißen Kugeln durch die Welt reisen.“
Natürlich hat auch Rolls-Royce eine Zukunftsvision entwickelt. Es gibt eine Modellstudie namens 103 EX, die Idee eines Elektroautos mit autonomen Funktionen und einem riesigen OLED-Bildschirm anstelle des Armaturenbretts. Doch der Entwurf wirkt ein wenig lustlos. Als wolle er sagen: Mag ja sein, dass künftig alles elektrisch und autonom wird. Aber schön ist das nicht.
Stolze Handwerker
Der Linienmaler Mark Court ist kein großer Freund von Computern und anderem Digitalkram. Zu Rolls-Royce kam er auch deshalb, weil ihm die Rechner mit ihren Grafikprogrammen seinen alten Job als Schildermaler vermasselt hatten – Leute wie er wurden für Pub-Malereien nicht mehr gebraucht. Als BMW 2003 in Goodwood das neue Rolls-Royce-Werk eröffnete, hob Court daher die Hand. „Ich habe mich einfach mal beworben“, sagt er. „Aber niemand konnte mir sagen, was sie eigentlich genau brauchten. Alles, was sie fragten, war: Kannst du eine gerade Linie malen? Ich sagte: Natürlich kann ich das, zum Teufel!“
Court zeigt jetzt seinen Pinselkoffer, eine kleine Holzkiste. Die Borsten seiner Arbeitsgeräte sind aus Eichhörnchenfell. Wie zur Beruhigung fügt Court hinzu, dass er die Pinsel in Deutschland bestellt hat – es kamen also keine englischen Eichhörnchen zu Schaden. „Das Material ist einfach das beste“, sagt er. „Es bringt genau den Effekt, den wir haben wollen.“
In der Umgebung von Goodwood wohnen viele Menschen vom Schlage Mark Courts: Handwerker, die sich mit Leder und Holz auskennen, viele von ihnen haben früher im Bootsbau an der nahen Küste gearbeitet. Genau die Art von Arbeitern also, die das Unternehmen braucht, um seine Autos in Handarbeit zu veredeln. Wer durch die Fabrikhallen von Goodwood läuft, hat nur selten das Gefühl, sich in einer Industrieanlage zu befinden. Alles ist leise, es gibt fast keine Roboter, es laufen keine Bänder. Wozu auch, wenn an einem normalen Tag nur etwa 20 Autos fertiggestellt werden? Es gibt keine Nachtschichten, an Wochenenden und Feiertagen wird nicht gearbeitet.
Bei Rolls-Royce lässt man sich Zeit. Etwa 500 Arbeitsstunden fließen in die Produktion eines Autos. Dabei ist der eigentliche Spaß noch gar nicht mit eingerechnet: das Customizing. Mit vergoldeten oder gleich massiv goldenen Kühlerfiguren, mit mehrfarbigen Lackierungen oder Nasch-Schränkchen aus Zedernholz. Das Flaggschiff Phantom, von dem 2017 ein neues Modell auf den Markt kam, kann schon mal 1200 Arbeitsstunden bis zur Fertigstellung brauchen. Schon in der Grundaustattung sind 48 Teile aus unterschiedlichen Hölzern verbaut. Und wenn sich ein Kunde eine Farbe wünscht, die bisher noch nicht genutzt wurde, wird der Farbauftrag erst einmal monatelang in sämtlichen Klimazonen getestet.
Unter allen Werken, die zum BMW-Konzern gehören, ist Goodwood vermutlich das seltsamste. Die Deutschen haben zwar eigene Leute ins Unternehmen geschickt, aber sie verwenden viel Mühe darauf, die britische Tradition beizubehalten. Die Fabrik liegt auf den weitläufigen Ländereien des Earl of March, eines britischen Adligen mit großem Hang zu allem, was einen Motor hat. Einmal im Jahr veranstaltet der Earl in der Gegend das Festival of Speed. Es ist ein nicht ganz ernst gemeintes Rennen, an dem Autos aus allen Epochen der Automobilgeschichte teilnehmen können. Die Besucher, Zehntausende jedes Jahr, dürfen während der Veranstaltung die Lager der Fahrer besuchen und dort quatschen, mit wem sie möchten. Eine Veranstaltung, wie sie in all ihrer Skurrilität nur in Großbritannien denkbar ist – und an der natürlich auch Rolls-Royce beteiligt ist.
Juchzen im Showroom von Rolls-Royce
Das lichte Fabrikgebäude, das eher einer Kunsthalle ähnelt, hat der Stararchitekt Sir Nicholas Grimshaw entworfen. Es schmiegt sich so innig in die sanften Hügel der Miss-Marple-Landschaft Südenglands, dass es aus der Ferne nicht zu sehen ist. Ragt doch mal ein Dach hervor, ist es grün bepflanzt, damit es weniger auffällt.
Ein Ort, der alles tut, um nicht nach Industriearbeit auszusehen. Es kommt vor, dass Kunden hierherreisen, um ihr Auto persönlich abzuholen. Sie werden dann in einen Showroom gebeten, bekommen eine Tasse Tee und einen Teller mit Plätzchen. Am Ende öffnet sich ein schwarzer Vorhang. Dahinter steht das Auto, an dessen Planung die Kunden oft selbst im Detail beteiligt waren. Es ist eine Show, die manchmal vom freudigen Juchzen einzelner Kunden begleitet wird, wie Mitarbeiter erzählen.
Der Maler Mark Court hält mit seinem Pinsel inne. Er nimmt einen Lappen und wischt die gerade erst gemalte Linie wieder weg. Die Dichte des Farbauftrags gefällt ihm nicht. Vielleicht muss er einen anderen Pinsel nehmen, von einem anderen Eichhörnchen, vielleicht auch eine andere Farbe. Bis zu vier Stunden lang kann der Maler die Linie nach dem Farbauftrag noch verändern, dann muss sie sitzen. „Die Kunden werden immer anspruchsvoller. Ihnen ist klar geworden, dass sie bestellen können, was sie wollen“, sagt Court. „Und gerade das macht Spaß. Man muss jeden Tag etwas Neues lernen. Sonst hat es keinen Sinn.“