Frau Rohr-Bongard, seit 36 Jahren behalten Sie Hunderte von Ausstellungen, Vernissagen und Biennalen im Blick, und zwar weltweit. Woher stammt die Leidenschaft für diese Mammutaufgabe?
Ich wurde in eine Familie von Künstlern und Musikern hineingeboren, habe schon von klein auf gemalt, gezeichnet, getanzt und Klavier gespielt. Da war mein Weg eigentlich klar. Später habe ich Kunst studiert, über sie geschrieben, sie gelehrt und selbst als Künstlerin gearbeitet. Wann immer ich etwas Geld hatte, kaufte ich ein Stück Editionskunst, schon als Studentin. Die „Intuition Box“ von Joseph Beuys für 8 Mark, „Blaues Dreieck“ von Blinky Palermo für 400 Mark, eine Grafik von Gerhard Richter. Gelegentlich habe ich mit Freunden getauscht. Ich brauche Kunst wie Luft zum Atmen.
Der Kunstkompass hat nicht nur beruflich, sondern auch privat große Bedeutung in Ihrem Leben – immerhin haben Sie seinen Erfinder geheiratet.
Ich traf Willi Bongard Anfang der Siebziger in der Eat-Art-Gallery in Düsseldorf, wo wir beide als Journalisten im Einsatz waren: er für seine Rubrik „Kunst als Ware“ in der „Zeit“, ich als Jungkritikerin für die „Welt am Sonntag“, mit zig aus der Handtasche lugenden Bleistiften. Ich erkannte ihn schon von Weitem, denn ich fand seinen Kunstkompass damals abscheulich. Ein Affront! Widerwillig stellten wir uns vor, und Willi sprach mich sofort auf die monatliche Bestsellerliste begehrter Grafiken an, die ich damals schrieb. Die wiederum fand er unmöglich. Minutenlang fauchten wir uns an, bis wir Hunger bekamen. Über Wein und Muscheln beendeten wir dann den Zwist – und es hat gefunkt.
Willi Bongard starb 1985 bei einem Autounfall. War damals sofort klar, dass Sie sein Lebenswerk fortführen würden?
Nein, obwohl ich ihm jahrelang bei den Recherchen geholfen hatte und wir einen ganz ähnlichen Geschmack hatten. Wir fanden die gleichen Künstler wunderbar oder eben überbewertet. Nur waren Zahlen einfach nie mein Ding gewesen, weder Aktien noch Bilanzen oder Versicherungen. In Mathematik hatte ich immer eine Fünf.
Wer hat Sie umgestimmt?
Das war Joseph Beuys, mit dem wir die Schule für Kreativität in Nümbrecht eröffnet und geführt hatten. Mein Mann verunglückte im Mai, und im November besuchte ich Beuys, der schwer krank war. Als ich ihn sah, nur noch Haut und Knochen, ahnte ich, dass ich bald mit allem ganz allein sein würde. Ich war überfordert und verzweifelt: Die Schule, das Archiv, und dann soll ich auch noch den Kunstkompass weitermachen. Er sah mich ruhig an: „Natürlich machst du den Kompass weiter.“ Im Januar 86 starb Beuys, und ich habe mein Versprechen gehalten. Anfangs reichten noch Karteikarten, während die Datenbank heute über 30.000 Künstler umfasst und ich statt 14 Museen mittlerweile rund 300 Museen beobachten muss.
Was sind für Sie die drei wichtigsten aktuellen Entwicklungen?
Mich freut sehr, dass Frauen im Kunstbetrieb mächtig Gas geben, oft mit sozial oder ökologisch engagierten Werken. Zudem ist eine steigende Bedeutung von Künstlern aus Afrika, Südamerika und Asien zu verzeichnen, die es jetzt bis in die Top 100 schaffen. Und ein Revival erlebt die eigentlich recht klassische Disziplin der Aktionskunst.
Welcher „Star von morgen“ hat Sie besonders beeindruckt?
Nevin Alada aus Berlin. Sie baut aus Möbeln originelle Musikinstrumente – wer sich bei einer ihrer Ausstellungen hinsetzt, wird mit Klängen überrascht. Außerdem verwandelt sie alte Teppiche und andere Gewebe in faszinierende Bilder und Installationen. Dieser Kunstbereich zieht mich seit Beuys’ Filzanzug und Christos Verhüllungen magisch an.

Teils erreichen Kunstpreise heute absurde Höhen. Ist Kunst nun vor allem ein Investitionsgut?
Ich finde es eine Schande, wenn Werke in Auktionsschlachten ersteigert werden, um dann in den Lagerhäusern irgendwelcher Oligarchen zu verkümmern, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das hat ja selbst Gerhard Richter kürzlich kritisiert: „Es geht nur noch um den Preis.“ Doch zum Glück gibt es rund um den Globus so viele Künstler, die nicht zur Marktelite gehören, zivile Preise aufrufen – und Großartiges schaffen! Von denen kaufe ich weiter das eine oder andere Stück, auch wenn mir längst der Platz fehlt. Lieber verzichte ich auf Möbel.
Welches Werk aus Ihrer Sammlung würden Sie mit auf die berühmte einsame Insel nehmen?
„S.H. – oder die Liebe zum Stoff“, eine Siebdruck-Edition von Sigmar Polke für Capital aus dem Jahr 2000. Sie war in wenigen Stunden ausverkauft.
Sie selbst sammeln seit Jahren. Aber welchen Rat würden Sie einem Neusammler geben?
Schauen Sie sich so viel wie möglich an, schulen Sie das Auge und suchen Sie den Austausch mit Museumskuratoren, Galeristen und natürlich den Künstlern selbst. Um Kunst zu verstehen und noch intensiver genießen zu können, bedarf es ständigen Trainings. Im Kunstkompass findet man genau dafür Listen mit guten Anregungen, wen man sich genauer ansehen sollte.
Wie ist eigentlich derzeit die Stimmung in der Kunstszene? Herrscht der Corona-Blues?
Wer es sich als Künstler leisten kann, etwa Neo Rauch, der besinnt sich zurück aufs Wesentliche: die Kunst – und nutzt die Zeit, die durch abgesagte Events, Termine und Reisen frei wird. Keine Verpflichtungen, nur die Leinwand im Atelier. Doch den Luxus haben natürlich nur wenige. Die Zahl der Künstler, die von ihrer Arbeit leben können, soll schon vor der Pandemie bei unter einem Prozent gelegen haben. Die Museen dürfen ja nun wieder öffnen, aber meine Erfahrung ist, dass es dort im Moment noch erschreckend leer ist. Das Gleiche erlebe ich in den Galerien. Klar, die „Blue Chips“ der Branche, die auf einem Polster von Millionen sitzen, halten durch. Den anderen bleibt die Hoffnung auf staatliche Unterstützung.
Der Capital-Kunstkompass misst seit 1970 Ruhm und Rang zeitgenössischer Künstler weltweit – und das möglichst objektiv. Ins Leben gerufen wurde das meistbeachtete Künstlerranking der Welt 1970 von Willi Bongard . Seit seinem Tod 1985 ist die Journalistin und Künstlerin Linde Rohr-Bongard Herausgeberin des Kompasses. Die Qualität von Kunst lässt sich zwar nicht messen, wohl aber ihre Resonanz in der Fachwelt. Werkpreise und Auktionsrekorde jedoch spielen bei der Bewertung der mehr als 30.000 Künstler keine Rolle. Mit unterschiedlichen Ruhmespunkten bewertet werden stattdessen folgende Kriterien:
- Einzelausstellungen in über 300 renommierten internationalen Museen und in wichtigen Ausstellungshallen wie dem Museum of Modern Art in New York
- die Teilnahme an jährlich über 100 wichtigen Gruppenausstellungen wie der Venedig-Biennale
- Rezensionen in führenden Kunstmagazinen wie „Art in America“
- Ankäufe führender Ausstellungshäuser, beispielsweise des Centre Pompidou in Paris
- Awards wie etwa der Praemium Imperiale in Tokio
- Public Art: die Positionierung von Skulpturen und Objekten im öffentlichem Raum
Die Positionen im Kunstkompass resultieren aus der Höhe der kumulierten Ruhmespunkte, die seit 1970 jährlich dazuaddiert werden. Seit 1987 präsentiert der Kompass die verstorbenen Künstler gesondert im „Olymp“. Zusätzlich stellt der Kunstkompass die 100 „Stars von morgen“ vor: die Protagonisten im zeitgenössischen Kunstbetrieb, die noch nicht zu den Top 100 zählen, aber in den letzten zwölf Monaten nach der gleichen Bewertung die größten Punktzuwächse erzielten.
Auf Capital+ finden Sie den diesjährigen Kunstkompass, der sein 50. Jubiläum feiert:
Die größten Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart:
Zukunftsmusik:
Nachruhm – Künstler, die über ihren Tod hinaus größte Bedeutung haben:
Kunstkompass-Editionen
Für den Kunstkompass gestalten renommierte Künstler Werke in kleiner Auflage. Zum 50. Jubiläum des Kunstkompass hat Linde Rohr-Bongard Werke von vier Künstlern dafür gewinnen können: Imi Knoebel, Christo und Jeanne-Claude und Ottmar Hörl. Hier finden Sie die Kunstkompass-Editionen 2020