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Niels Albrecht Wer seine Prinzipien verrät, verrät sich selbst

Niels H.M. Albrecht
Niels H.M. Albrecht
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Mit seinem Krisenmanagement in eigener Sache hat Karl-Theodor zu Guttenberg vollständig versagt. Verrate nie Deine Prinzipien, denn Du verrätst Dich selbst – diesen Grundsatz hat der Polit-Star in der Plagiatsaffäre missachtet. Dabei war die Krise vermeidbar

Er war der Superstar der deutschen Politik. Eine Lichtgestalt. Er hatte alles: Eine adlige Herkunft, eine Ehefrau aus dem Hause Bismarck, zwei Töchter, ein eigenes Schloss und positive Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Die Massen liebten ihn. Karl-Theodor zu Guttenberg wurde bereits als Nachfolger im Bundeskanzleramt gehandelt. Sein Aufstieg war kometenhaft. Doch in nur zwei Wochen verglühte der helle Komet über Berlin. Am 16. Februar 2011 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel, in dem der Jura-Professor Andreas Fischer-Lescano von der Universität Bremen die Doktorarbeit Guttenbergs als dreistes Plagiat und Täuschung bezeichnete. Guttenberg betonte, dass die Anfertigung der Arbeit seine Leistung war. Auch sein Doktorvater Peter Häberle wies diese Vorwürfe als „absurd“ zurück.

Bereits einen Tag nach der ersten und einzigen Presseveröffentlichung der Süddeutschen Zeitung formulierte Bild-Zeitungs-Autor Franz Josef Wagner in seinem Kommentar folgende Einschätzung: „Ich flog durchs Abitur und habe keine Universität von innen gesehen. Also, ich kann von außen sagen: Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor.“ Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Untersuchungen und Erkenntnisse zur Dissertation des Barons auf dem Tisch. Trotzdem bezog Wagner klar Stellung: Der Doktortitel war seiner Auffassung nach nicht so wichtig wie die Person. Damit bezog Wagner nicht nur gegen alle Akademiker:innen, sondern auch gegen den Wissenschaftsstandort Deutschland Position.

Im Fall Guttenberg kam es zu einem Medienbruch innerhalb des Axel-Springer-Konzerns. Die blaue Zeitungsgruppe aus Welt, Welt Online, Welt Kompakt und Welt am Sonntag sowie die rote Zeitungsgruppe aus Bild, Bild Online, Bild am Sonntag, Bild der Frau, Sport Bild, Auto Bild und Computer Bild unter der Leitung von Kai Diekmann waren im Fall Guttenberg nicht mehr einer Meinung. Die Chefredaktion der Welt vertrat die Auffassung, dass eine Dissertation, besonders für ihre konservative Leserschaft, ein wissenschaftlicher Wert sei, der nicht in Frage zu stellen und somit nicht zu verhandeln sei. Ganz anders die Einstellung der Bild-Zeitung. Diekmann hatte sich ohne Einschränkung hinter „seinen“ Minister gestellt. Ein tiefer Riss ging durch den Axel-Springer-Konzern.

Der Wind dreht sich gegen Guttenberg

Genauso wie durch Deutschland. Während sich der Verteidigungsminister durch die große Unterstützung seines Freundes Diekmann in Sicherheit wog, arbeiteten unzählige Onliner:innen völlig unabhängig von Zeit und Raum an der Überprüfung von Guttenbergs Doktorarbeit. Sie schlossen sich am 17. Februar 2011 auf der Internetplattform GuttenPlag zusammen. Am nächsten Tag kam es in der Bundespressekonferenz zu einem Eklat. Guttenberg stellte sich nicht den kritischen Fragen der akkreditierten Hauptstadtjournalist:innen, sondern gab parallel zu der laufenden Bundespressekonferenz eine Erklärung vor einigen ausgewählten Medienvertreter:innen ab, die vor dem Ministerium gewartet hatten. In dürren Worten betonte der Minister, dass er seinen Doktortitel bis zur Aufklärung durch die Universität Bayreuth nicht mehr führen werde und dass seine Arbeit kein Plagiat sei. Mit seinem Nichterscheinen auf der Bundespressekonferenz hatte er alle Hauptstadt-Korrespondent:innen gegen sich aufgebracht. Es herrschte Fassungslosigkeit über das Verhalten des Ministers. Den Berliner Journalist:innen zeigte sich ein neues Bild von zu Guttenberg: Er wurde nun als feige eingeschätzt. All seine Wertvorstellungen schienen in der Krise für ihn nicht zu gelten. Auch sein Pressesprecher Steffen Moritz war völlig handlungsunfähig und konnte in der Bundespressekonferenz keine Erklärung abgeben.

Der Wind hatte sich gedreht. Aus dem politischen Überflieger war in nur wenigen Tagen ein genialer Blender geworden. Noch während der laufenden Terminankündigungen der Bundeskanzlerin durch Regierungssprecher Steffen Seibert verließen die Journalist:innen aus Protest gegen das Verhalten des Ministers geschlossen den Saal. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundespressekonferenz.

Nur vier Tage nach der Veröffentlichung des schwerwiegenden Vorwurfs war eine erdrückende Beweislage im Internet abrufbar: Die User hatten schon fast 70 Prozent der Dissertation als Plagiat entlarvt. Stündlich nahmen die schwarzen und roten Balken in der grafischen Darstellung auf GuttenPlag zu. Nur wenige weiße Seiten blieben als geistiges Eigentum von Karl-Theodor zu Guttenberg übrig.

Niels H. M. Albrecht: Kommunikationsmacht – Strategien der Aufmerksamkeitsökonomie, 480 Seiten, gebunden, 24,95 Euro, ISBN 978-3-98212-621-0, Blick ins Buch
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Am 3. April 2011 stand dann das Ergebnis auf GuttenPlag fest: Auf 371 Seiten wurden Plagiatsfragmente in der Doktorarbeit von zu Guttenberg gefunden. Die Arbeit verfügte über insgesamt 393 Seiten. Somit kam das GuttenPlag Wiki zu dem Ergebnis, dass 94 Prozent der Dissertation ein Plagiat waren. Die Arbeit der Netzaktivist:innen führte zur Nominierung für den Grimme Online Award.

Das Ergebnis der Plagiatsarbeit von zu Guttenberg war für alle Bürgerinnen und Bürger im Internet einzusehen. Die Intelligenz des Internetschwarms war zu jedem Zeitpunkt schneller als das verheerende Krisenmanagement des Ministers. In diesen Tagen trat die Bundeskanzlerin auf den Plan. Angela Merkel trug auf einer Pressekonferenz in der CDU-Zentrale vor, dass sie einen fähigen Minister und keinen wissenschaftlichen Assistenten bestellt habe. Ein bemerkenswerter Satz der Kanzlerin. Sie unterteilte ihren Minister in zwei Körper. Christian Geyer-Hindemith, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, untersuchte diesen Satz genauer. Er schrieb: „Die Zwei-Körper-Theorie der Bundesregierung, wonach Guttenberg als Promovend nicht gewusst habe, was er tue, als Verteidigungsminister aber selbstverständlich Herr der Lage sei, ist zu abgehoben, als dass sie der Normalbürger à la longue nachvollzöge.“ Die Kanzlerin wusste sehr genau, dass man einen Menschen nicht in zwei Körper teilen kann. Es war ein geschickter Schachzug von Angela Merkel, die schon so manchen mächtigen Mann aus den CDU/CSU-Reihen, wie Friedrich Merz, Norbert Röttgen oder Hans-Peter Friedrich, mit scharfer Klinge seziert hatte. Sie hatte ihrem Verteidigungsminister eine Falle gestellt, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. 

Bild hielt hielt dem gefallenen Polit-Star die Treue

Es formierte sich Protest im Deutschen Hochschulverband sowie bei den Doktorand:innen und Wissenschaftler:innen an den verschiedenen deutschen Universitäten. Hätte der Satz von Angela Merkel Gültigkeit, wäre die gesamte deutsche Wissenschaft und mit ihr auch ihre eigenen wissenschaftlichen Leistungen sowie die ihres Ehemannes, Universitätsprofessor Sauer, nichts mehr wert gewesen. Der Satz der Bundeskanzlerin verfehlte seine Wirkung nicht. Die klugen Köpfe der Berliner Republik erkannten die neue Einordnung der Kanzlerin.

In der Causa Guttenberg stand die Bild-Zeitung zu ihrem eingeschlagenen Kurs. Kai Diekmann stützte seinen Freund im Verteidigungsministerium. Höhepunkt der medialen Auseinandersetzung war der „Guttenberg-Entscheid“ in der Bild-Zeitung. Am Mittwoch, den 23. Februar 2011, rief die Bild-Zeitung ihre Leser:innen zur Umfrage über den Minister per Telefon oder Fax auf. Die kostenpflichtige Bild-Umfrage, an der sich 261.323 Leserinnen und Leser beteiligten, konnte keine Wende mehr einleiten. Auch wenn die Schlagzeile „87 Prozent Ja-Stimmen – Ja, wir stehen zu Guttenberg!“ der letzte Triumph für den Minister sein sollte, so war diese Schlagzeile nur noch der letzte mediale Höhepunkt eines selbstinszenierten Untergangs. 87 Prozent von 261.323 Bild-Zeitungsleser:innen standen hinter dem Minister. Ein Ergebnis, das keine Schlagzeile wert war. Vielmehr war es eine Offenbarung für die Bild-Zeitung. Die Redakteur:innen im Berliner Axel-Springer-Hochhaus, welche die Volksstimme in der Bild-Überschrift oftmals so treffend auf den Punkt brachten, waren nun keine unabhängigen Journalist:innen, sondern eine verlängerte und kostenfreie PR-Abteilung des Barons aus Kulmbach.

Die Salamitaktik von Minister zu Guttenberg ging aber nicht auf. Auch die Universität Bayreuth ließ ihn fallen. Der Jura-Professor Oliver Lepsius formuliert es am 25. Februar 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besonders scharf: „Wir sind einem Betrüger aufgesessen.“ Auch Doktorvater Peter Häberle musste auf Distanz zu seinem Schützling gehen und stand vor einem Scherbenhaufen seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Zeitgleich verschwand das Werbevideo von zu Guttenberg von der Homepage der Universität Bayreuth.

Am 1. März 2011 trat Karl-Theodor zu Guttenberg im Verteidigungsministerium vor die Presse. In den sieben Minuten seiner Erklärung sprach er immer noch von Fehlern und nicht von einer dreisten Täuschung. Obwohl diese bereits bewiesen war. Absurderweise beklagte sich Guttenberg nun über die Medien. Dabei suchte er früher doch stets den Kontakt und gierte geradezu nach Schlagzeilen. Guttenberg zog schließlich die Konsequenzen aus einem Skandal, den er von Beginn an nicht bewältigen konnte, und gab seine politischen Ämter auf. Die alte Medienlogik des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, „Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und Glotze“, galt nicht mehr. Trotz Unterstützung von Bild war der Medienstar der CSU nun Geschichte. Karl-Theodor zu Guttenberg ließ sich von der Macht der Bild-Zeitung blenden. Den Rücktritt meldete Spiegel Online dementsprechend folgerichtig mit dem Aufmacher: „Netz besiegt Minister.“

Tatsächlich markiert die Causa Guttenberg einen neuen Meilenstein im Umgang mit medialen Krisen. Der Minister wurde von Netzaktivist:innen entblößt und seines Amtes enthoben. Der Medienmarkt hat sich verändert. Die neue Macht der Bürgerinnen und Bürger liegt im Internet. Zu Guttenberg hatte von Anfang an den Kampf um die Deutungshoheit der Nachrichten verloren. Es handelte sich um eine Krise, die sich nur auf seine Person bezog. Er konnte sich der Verantwortung nicht entziehen und sie nicht auf andere abwälzen. Der Minister war in die Defensive geraten, und damit war die Krise für ihn nicht mehr steuerbar. Kai Diekmann nahm das Scheitern des Verteidigungsministers, welches auch einen Machtverlust der Bild-Zeitung implizierte, selbstironisch hin: „Ich habe den Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg angenommen und werde in den nächsten Tagen über die Frage der Nachfolge entscheiden.“ Weniger ironisch, sondern sehr selbstkritisch, reflektierte der Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Giovanni di Lorenzo, sein eigenes Verhalten. Er bezeichnete seinen Aufmacher mit Guttenbergs Worten „Mein ungeheuerlicher Fehler“ in der Zeit und sein gemeinsames Buch mit Karl-Theodor zu Guttenberg mit dem Titel „Vorerst gescheitert“ später selbst als schweren Fehler. Di Lorenzo musste sich von seiner eigenen Leserschaft sowie von den Kolleg:innen Kritik gefallen lassen, seine journalistische Distanz zur Person Guttenberg, so der Vorwurf, sei nicht gewährleistet gewesen.

Guttenbergs Welt drehte sich nur um ihn

Neun Monate nach seinem Rücktritt betrat Karl-Theodor zu Guttenberg völlig verändert wieder die Bühne: Kein Gel mehr in den Haaren. Keine Brille mehr auf der Nase. Ein ganz neuer Look. Doch ein neuer Look allein bringt noch keine neue Haltung und Sichtweise. Vielmehr hielt der Baron an seiner alten Verteidigungslinie fest. Ein schwerer Fehler blieb es, dass zu Guttenberg sich während der Krise im Frühjahr und bei seinem Comeback-Versuch im Herbst des Jahres 2011 nie in die Sichtweise seiner Kritiker:innen versetzen konnte. Seine Welt drehte sich nur um ihn. Am deutlichsten wurde dies, als er seine familiäre und politische Belastung in einem Interview für Die Zeit ins Feld führte: „Ich habe im Jahr 1999 mit meiner Doktorarbeit begonnen, und schon damals war eine Doppelbelastung absehbar: Ich bin bereits während des Studiums von der Familie erheblich mit in die Pflicht genommen worden, in unserem Unternehmen.“

Hier wird deutlich, dass er seinen einstigen klaren Blick für die Bevölkerung verloren hatte. Die von ihm angeführte Doppelbelastung ist nichts Besonderes: Die meisten Student:innen und Doktorand:innen in diesem Land müssen neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit zusätzlich jobben, Kinder erziehen, in der Familie helfen, Angehörige pflegen und gleichzeitig einen Weg ins Berufsleben finden. Die Mehrzahl hat aber nicht die Möglichkeit, im eigenen Unternehmen zu arbeiten. Die meisten leben auch nicht auf einem Schloss und können auch nicht auf Geld, Assistent:innen und den Wissenschaftlichen Dienst von Bundestag und Partei hoffen.

Der Mehrheit der Gesellschaft war nach der Veröffentlichung des Interviews und seinem Buch bewusst geworden, dass Guttenberg die Realität ausgeblendet hatte. Wörtlich gab er zu: „Mir hat komplett die notwendige Selbstreflexion gefehlt.“ Weiter bekannte er: „Das hat sicherlich auch mit Hochmut zu tun und mit einem gerüttelten Maß an Eitelkeit. All das ergibt eine ziemlich verheerende Kombination.“ Durch das Interview war das letzte Vertrauen zerbrochen. Wer wollte einen Politiker ohne Selbstreflexion, dafür aber mit Hochmut und Eitelkeit an die Spitze des Staates wählen?

Krisenkommunikation

Die Krise des ehemaligen Bundesverteidigungsministers hätte vermieden werden können. Wie komme ich zu dieser verwegenen Ansicht? Vor, während und nach einer Krise gilt es, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit zu erhalten. Der Aufbau einer Vertrauenspyramide in der Causa Guttenberg war nicht gegeben. Im Gegenteil; es wurde gegen alle Grundregeln des Vertrauensaufbaus verstoßen. Der größte Fehler von zu Guttenberg und seinem Stab lag in der Nichtbeantwortung der Grundsatzfragen in der Krise. Schon zu Beginn des Skandals nahm er eine schnelle und eindeutige Bewertung vor, ohne sich selbst zu hinterfragen. Er behauptete, dass seine Arbeit kein Plagiat sei. Alles andere wäre absurd.

Damit hatte er selbst seine Fallhöhe festgelegt. Und sie war, wie sich wenige Tage später zeigte, zu hoch. Seine Aussage entsprach zu keinem Zeitpunkt der Wahrheit, daher musste er auf immer neue Vorwürfe reagieren. Er hatte sich in die Rolle des „Selbstverteidigungsministers“ begeben, aus der er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. In dieser Rückenlage konnte keine glaubwürdige Handlungsaktion mehr erwachsen. Am Anfang einer Krise muss immer die Selbstreflexion stehen. Hochmut und Eitelkeit, die Guttenberg selbst als seine Antriebsfedern bezeichnete, sind die wohl schlechtesten Berater.

Die erste Maßnahme in einer Krise ist der Rückgriff auf Sigmund Freuds Psychoanalyse. Halten Sie sich folgende Erkenntnis des Wiener Psychiaters vor Augen: „Eine Handlung des ICHs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des ES, des ÜBER-ICHs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.“ Somit ist die erste und entscheidende Weichenstellung in einer Krise die Überprüfung und Harmonisierung von ES und ÜBER-ICH zu einer ganzheitlichen Erkenntnis im ICH. Besonders bedrohlich in Krisensituationen ist unser eigenes ES. Die rücksichtslose Triebbefriedigung des ES kann zu gefährlichen Konfliktsituationen mit der Außenwelt führen. Das ICH sollte durch das Gewissen und die Moral des ÜBER-ICHs die Oberhand in der Krise behalten.

Zu Guttenberg hatte sich am Krisenanfang gegen eine Selbstreflexion entschieden. Das führte in der Folge zum direkten Vertrauensverlust. Seine Wertbekenntnisse, die damals alle auf seiner Homepage nachzulesen waren – „Politik braucht klare Werte“, „Verantwortung bedeutet vor allem Verpflichtung, Vertrauen und Gewissen“, „Ich will auch unbequemen Fragen nicht aus dem Weg gehen“ – waren nun, gerade als es auf sie angekommen wäre, für ihn nichts mehr wert. Noch viel schwerwiegender in einer solchen Situation ist die Neigung zur Hybris, also zu Selbstüberschätzung und Hochmut. Versuchen Sie, sich selbst einmal in die Situation von zu Guttenberg zu versetzen: Sie sind ein Politik- und Medienstar und werden bereits als Kanzler:in in Reserve gefeiert. Überall, wo Sie auftreten, schwarze Staatskarossen, roter Teppich, große Bühne, Bodyguards, viele Kamerateams und noch mehr Fotograf:innen sowie unzählige Fans am Straßenrand. Würde dieser große Bahnhof Sie als Mensch kalt lassen?

Hätten Sie zu jeder Zeit einen sachlichen Blick auf die Dinge? Wahrscheinlich nicht. Umso wichtiger ist es, dass Sie sich in solchen Situationen bewusst machen, was es bedeutet, einen klaren Blick zu behalten. 2009 hatte zu Guttenberg diesen noch. In einem Interview mit dem Magazin Bunte wurde er gefragt: „Herr Minister, die Deutschen scheinen zu glauben, dass Sie über Wasser laufen können.“ Er antwortete damals auf diese Frage sehr reflektiert: „Ich würde mit dem ersten Schritt erbärmlich baden gehen. Dessen sollte man sich schon sehr bewusst sein.“ Von 2009 bis zu seinem Rücktritt 2011 erhielt er die Rückmeldung von der gesamten Außenwelt, dass er „übers Wasser laufen“ könne. Damit verschob sich allmählich die eigene Perspektive. „Die Macht des ES drückt“, nach Sigmund Freud, „die eigentliche Lebensabsicht des Einzelnen aus. Sie besteht darin, seine mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen.“ Schon bei der Krise um seine Doktorarbeit konnte zu Guttenberg wohl die Realität nicht mehr annehmen. Zu sehr stand seine Macht in Abrede. Vielmehr fühlte er sich als Opfer einer Medienkampagne. Dabei hatte er die Medien selbst immer für sich gesucht. Zu Beginn der Krise waren noch alle Chancen auf seiner Seite. Eine schonungslose Analyse seiner Dissertation und ein sofortiger Rücktritt von allen politischen Ämtern hätten ganz andere Perspektiven eröffnet. Ein Blick über den eigenen Tellerrand kann dabei helfen, da wir lediglich 40 der möglichen 360 Grad unserer Wirklichkeit wahrnehmen können.

Verrate nie Deine Prinzipien, denn Du verrätst Dich selbst – diesen wichtigen Grundsatz in der Krise missachtete der Minister vollständig. Eine klare Haltung, vollständige Aufklärung und das Übernehmen von Verantwortung wäre der richtige Weg gewesen. Wahrscheinlich hätte die Bevölkerung ihm für ein solches Verhalten sogar noch Bewunderung gezollt. Bei einem klugen und entschlossenen Krisenmanagement wäre es sogar vorstellbar gewesen, dass ihm seine Wähler:innen noch mehr Zuspruch erteilt hätten. Denn die Menschen erwarten von ihren Politiker:innen keine Vollkommenheit, sondern Ehrlichkeit. Karl-Theodor zu Guttenberg blendete die Tragweite seines Plagiates aus, obwohl er als Verteidigungsminister nicht nur einer Armee, sondern auch zwei Universitäten vorstand. Der Minister repräsentierte das Wissenschaftssystem der Bundeswehr mit seinen zahlreichen Doktorand:innen. Ein Plagiat war mit dem Amt nicht vereinbar. Damit war seine Salamitaktik von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Für die Früherkennung kann der Krisen-Tacho hilfreiche Erkenntnisse liefern, um die Schwere eines Vorfalls einzuschätzen und die verschiedenen Handlungsoptionen zu prüfen.

Niels Albrecht: Wer seine Prinzipien verrät, verrät sich selbst

Niels H. M. Albrecht ist Leiter der DEACK – Deutsche Akademie für Change und Kommunikation. Der Speaker, Dozent und Buchautor berät Regierungen, Unternehmen, Stiftungen, Vereine und Kirchen in Veränderungsprozessen und Krisensituationen. Zuletzt hat er das Buch „Kommunikationsmacht – Strategien der Aufmerksamkeitsökonomie“ veröffentlicht. Daraus stammen die verschiedenen Kommunikationstools, die er in seiner 14-tägigen Kolumne auf Capital.de vorstellt. Mehr Infos zum Autor gibt es hier.

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