Vom Begründer der Humanistischen Psychologie, Carl Rogers, ist das Zitat überliefert: „Wenn ich an die Welt denke, werde ich pessimistisch. Wenn ich an die Menschen denke, werde ich optimistisch.“ Auch wenn alles schiefgeht, die Welt so richtig den Bach runtergeht, findet der Mensch einen Ausweg - mit Mut, Erfindergeist und Hingabe. Rogers wusste, dass die Gestaltung einer humanen Welt nicht ohne ein humanistisches Menschenbild möglich ist. Wer Lösungen will, muss den Menschen vertrauen. Rogers war Mitte des letzten Jahrhunderts Teil der sogenannten kognitiven Wende in der Psychologie, die das emotionale und kognitive Vermögen, seine Fähigkeit zur klugen Anpassung und eine konstruktive Sozialität in den Vordergrund stellte.
Tempi passati. Heute gefallen sich die Teilnehmer von gesellschaftlichen Diskursen darin, einander das Schlimmste an den Hals zu wünschen. Der politische Gegner wird entmenschlicht, die Algorithmen der (a)sozialen Medien mästen sich in Form von Hass, Missgunst und Verächtlichmachung an den niedrigsten Trieben ihrer Nutzer und einige Klimaaktivisten fantasieren öffentlich über die Vorteile der Selbsttötung.
Den lähmenden Pessimismus überwinden
Diese Diskurskraft des Destruktiven wirkt auch in Unternehmen. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Kollegen oder Mitarbeiter anschaue und mich ehrlich frage: „Was braucht Meier, damit er seine volle Leistung abrufen kann?“ Oder ob ich gleich zum Urteil komme: „Na, einen Tritt in den Hintern!“ Solange wir Menschen als extrinsisch motiviert betrachten, dass also Menschen vor allem durch äußere Belohnungen wie Geld, Status und Macht (bzw. die Wegnahme dieser Faktoren) zu beeinflussen sind, bleiben wir ein Stück blind für deren intrinsische, also innere Motivation. Dabei ist es gerade die intrinsische Motivation, die einen Menschen langfristig an einer Aufgabe dranbleiben lässt, die ihn auch unter widrigen Umständen geistig gesund erhält, die verantwortlich ist für berufliches Glück.
Für Führungskräfte und Personalexperten bedeutet das: Überprüfen Sie Ihr eigenes Menschenbild. Man kann beispielsweise in einer Organisation nicht davon sprechen, Führungskräfte als Coaches einzusetzen ohne ein positives, humanistisches Menschenbild. Werden Sie selbst optimistisch, wenn Sie an Ihre Mitarbeiter und Kollegen denken? Sehen Sie vor allem die Dinge, die Ihre Mitarbeiter und Kollegen gut machen - oder vor allem deren Fehler? Dies ist nicht nur eine Frage der Perspektive, sondern eine Entscheidung. Wer sich dafür entscheidet, auf den Stärken seiner Mitarbeiter und Kollegen aufzubauen und sie ihnen anerkennend spiegelt, überwindet letztlich den lähmenden Pessimismus, der sich über unsere Gesellschaft gelegt hat wie Mehltau. Vielleicht ist das die wichtigste Innovation in unserer Gesellschaft und unseren Unternehmen überhaupt: die (Wieder-)Entdeckung des humanistischen Menschenbildes.
Mein Menschenbild ist eine Entscheidung
Das ist nicht leicht. Uns allen fällt es schwer, in so grundlegenden Kategorien wie der Beurteilung von anderen Menschen über unseren Schatten zu springen. Aber es lohnt sich. Im Organisationscoaching sprechen wir von einer dreifachen Wertschöpfung, die ein Unternehmen leistet: eine kulturelle, eine organisationale und eine finanzielle. Die Kultur als Ursache und Wirkung jedes sozialen Systems steht und fällt mit dem darunter liegenden Menschenbild. Ein Unternehmen hat in seiner Arbeit am Menschenbild einen mächtigen Hebel in der Hand. Dabei geht es nicht um moralische Indoktrination, sondern schlicht um die Frage: Wie wollen wir miteinander umgehen? Was sehe ich in dir: den Kollegen, der sich Mühe gibt oder den Minderleister, den es zu bestrafen gilt? Und fragen Sie sich nicht zuletzt: Wo wollen rar werdende Fachkräfte wohl lieber arbeiten: in einer Kultur der Akzeptanz und der Möglichkeiten oder in einer Kultur der Angst und der Einschränkung?
Das Menschenbild, dem ich folge, ist keine philosophische Diskussion im Wolkenkuckucksheim. Es ist eine konkrete Entscheidung, die meine Sicht auf Menschen und die Zusammenarbeit mit ihnen beeinflusst. Ich für mich habe entschieden: Wenn ich auf die Menschen schaue, werde ich optimistisch.