Angst hat einen schlechten Ruf. Niemand gibt gern zu, dass er Angst hat. Egal, ob wir in die Popkultur schauen, in die Politik oder ins Geschäftsleben: Angst ist verpönt. Mut und Risikobereitschaft werden verehrt und belohnt, die „klare Kante“, der Sprung des Start-up-Teams ins kalte Wasser, der Superheld, der gegen das übermächtige Böse zu Felde zieht. Der Spruch „Die Wache stirbt, sie ergibt sich nie“ des italienischen Schriftstellers Giovannino Guareschi, den er seiner bekannten Titelfigur Don Camillo in den Mund legt, ist ein markantes Beispiel für den Stellenwert, den Mut und Opferbereitschaft in unseren Alltagserzählungen genießt.
Niemand hat gern Angst - ich auch nicht. Aber wir sollten zwischen konstruktiver und zerstörerischer Angst unterscheiden. Zerstörerische Angst schlägt wild um sich, reagiert tatsächlich panisch. Der eigene Horizont verkürzt sich auf die nächsten wenigen Momente, man kann nicht mehr klar denken, verletzt sich und andere und trifft für alle Beteiligten schlechte Entscheidungen. In diese Angst sollten wir in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik möglichst wenig verfallen. Zerstörerische Angst macht uns blind für das Wesentliche, für unsere Mitmenschen und für die Chancen, die sich uns womöglich bieten.
Wichtig ist, was man aus der Angst macht
Demgegenüber ist konstruktive Angst überaus hilfreich. In der Evolution haben sich genetisch weder die wagemutigen Pioniere noch die übervorsichtigen Paniker durchgesetzt. Die Pioniere, die als erstes in fremde Höhlen sprangen, wurden mitunter gefressen. Und die Paniker, die nie etwas Neues wagten, kamen zum Schluss mit der Herde buchstäblich nicht mehr mit. Jemand, der behauptet, nie Angst zu haben, ist daher nicht außergewöhnlich mutig, sondern ein Psychopath. Solche Menschen sollte man meiden, da sie einen in der Regel mit sich in den Abgrund reißen, wenn die Glückssträhne jäh zu Ende ist - egal ob in der urzeitlichen Höhle des Bären oder beim Absturz an der Börse, wenn das Unternehmen für alle ersichtlich (nur nicht für das Team an der Spitze) durch falsche Entscheidungen und unangebrachten Wagemut ins Verderben geführt wurde.
In der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation haben viele Menschen Angst. Das ist okay. Es ist in Ordnung und ein Zeichen geistiger Gesundheit, dass Sie manchmal Angst haben: Angst um Ihre Zukunft, um Ihre Gesundheit, Ihre Arbeitsstelle oder um einen geliebten Menschen. Wichtig ist, was man daraus macht. Wer sich von seiner Angst überwältigen lässt, hat schon verloren. Denn Angst ist zwar ein wichtiger Sensor für die Situation in der Gegenwart, aber ein schlechter Ratgeber für die Zukunft. Um mit Angst konstruktiv und zukunftsorientiert umzugehen, brauchen wir dessen Gegenspieler: Vertrauen.
Vertrauen muss erarbeitet werden
Vertrauen ist leicht dahingesagt, aber unter Umständen schwer aufzubauen. Nicht umsonst heißt es: Vertrauen kommt zu Fuß, aber flieht zu Pferde. Man braucht lange, um Vertrauen herzustellen, aber eingerissen ist der Turm des Vertrauens in der Regel in sehr kurzer Zeit. Und gerade der Vertrauensaufbau ist eine deutsche Schwäche. Wir überschätzen den Wert von Regeln und unterschätzen den Wert vertrauensvoller Beziehungen. Momentan investieren Politik, Medien und Wirtschaft viel zu wenig Zeit und Arbeit, um Vertrauen in die politischen, kommunikativen und wirtschaftlichen Grundmechaniken unseres Landes aufzubauen. Aber auch wir selbst konzentrieren uns in unseren Betrieben zu wenig darauf, uns gegenseitig wirklich kennenzulernen, Beziehungen aufzubauen und so das gegenseitige Vertrauen zu steigern.
Aber wo kein Vertrauen gesät wird, wächst als Unkraut die Angst. Wir sollten daher nicht nur soziale und ökologische Nachhaltigkeit als wirtschaftliche und politische Ziele verfolgen, sondern das Leitbild einer Vertrauensgesellschaft. Eine Gesellschaft, in der sich zu wenige Menschen gegenseitig vertrauen, fällt auseinander. Dann sind wir wieder in der Urzeit und trennen uns in die Pioniere und die Paniker, die nach unterschiedlichen Seiten auseinanderstreben. In diesem Sinne ist der vielbeklagte Verlust der politischen Mitte selbstverständlich auch ein Vertrauensverlust und das Erstarken einer tiefen, in letzter Konsequenz zerstörerischen Angst um ihre eigene Zukunft.
Wenn ich mir für Unternehmen und Parteien einen Workshop wünschen dürfte, sollte das ein Vertrauens-Workshop sein, ein Anti-Angst-Workshop. Nur wer sich wirklich kennt, verlässt sich aufeinander. Und nur wenn sich das Wir tatsächlich hinter einem starken gemeinsamen Ziel vereint, entsteht echter, nachhaltiger unternehmerischer oder politischer Erfolg. Für beide Sphären gilt daher: Wer auf die Angstkarte setzt, mag kurzfristig die Paniker abholen. Langfristig zerstört er das System, das er gewinnen will.
Markus Väth gilt als einer der führenden Köpfe der New-Work-Bewegung in Deutschland. Er ist Gründer und Geschäftsführer der auf New Work spezialisierten humanfy GmbH und Verfasser der New Work Charta, die sich für eine klare, humanistische und soziale Version von New Work einsetzt. Er hat mehrere Bücher zu New Work und Management verfasst und ist Lehrbeauftragter für New Work und Organisationsentwicklung an der Technischen Hochschule Nürnberg. Mit seinem Ansatz des Organisationscoachings begleiten er und sein Team Unternehmen in ihrer Transformation hin zu echtem New Work und einer neuen Arbeitswelt.