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Arbeitszeit Was im Stechuhr-Urteil steht – und was die Politik jetzt tun muss

Müssen wir jetzt alle „stempeln“? Legt man die Stechuhr-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eng aus, liegt dieser Schluss nahe
Müssen wir jetzt alle „stempeln“? Legt man die Stechuhr-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eng aus, liegt dieser Schluss nahe
© IMAGO/Frank Sorge
Das Bundesarbeitsgericht hat das drei Jahre alte Stechuhr-Urteil vom Europäischen Gerichtshof bestätigt. Jetzt ist die Politik am Zug. Was auf dem Spiel steht – und was Arbeitgeber jetzt tun sollten

Viele Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gehen im Alltag eher unter – nicht aber das sogenannte Stechuhr-Urteil aus dem Mai 2019. Schon damals schlug die Nachricht bei Arbeitgebern ein wie eine Bombe; als das Bundesarbeitsgericht (BAG) Ende September das Urteil bestätigte, entbrannte erneut eine Diskussion.

Viele Arbeitgeber fragen sich, ob sie ab sofort jede Arbeitsminute ihrer Mitarbeitenden dokumentieren müssen – quasi eine Stechuhr für alle, auch für solche, die bislang Vertrauensarbeitszeit hatten. Tatsächlich fordert das BAG ein, dass Unternehmen ein System einführen müssen, um die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden zu überwachen. Was das genau heißt? Seine Entscheidungsgründe hat das BAG nun in der vergangenen Woche nachgeliefert – damit bringt das Gericht etwas Licht ins Dunkel, hat aber auch erneut die Diskussion entfacht. Worum es dabei geht, wer jetzt am Zug ist und was Firmenlenker nun tun müssen: 

Worum geht es?

Nach dem EuGH-Urteil sind Mitgliedsstaaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Unternehmen die täglich geleistete Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden erfassen. Wie das genau umzusetzen ist, sei Aufgabe der einzelnen Länder. In Deutschland ist die Umsetzung bislang nicht erfolgt. Die Ampelkoalition hat dies aber in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Das BAG übt mit seiner Entscheidung nun Druck auf die Politik aus. Demnach gebe es bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Firmenbetreiber könnten also schon jetzt (theoretisch) Probleme mit der Gewerbeaufsicht bekommen. Nur eine Strafe müssen sie bislang nicht befürchten. Die kann erst erfolgen, wenn der Gesetzgeber die Anpassungen beschließt.

Wie argumentiert das Bundesarbeitsgericht?

Konkret beschäftigte sich das BAG mit der Klage eines Betriebsrats. Der wollte auf Grundlage des EuGH-Urteils ein elektronisches Zeiterfassungssystem erzwingen. Interessanterweise lehnte das BAG dies ab – was aber nicht heißt, dass der Betriebsrat verloren hat. Es kommt auf die Details an: Nach Paragraf 87 des Betriebsverfassungsgesetzes hat der Betriebsrat nämlich ein sogenanntes Initiativrecht. Er kann also vom Arbeitgeber verlangen, Regelungen für bestimmte Themen mit ihm zu vereinbaren – zum Beispiel im Bereich Gesundheitsschutz. Über diesen Paragrafen wollte der klagende Betriebsrat auch die elektronische Zeiterfassung beim Arbeitgeber durchsetzen. Das Gericht erklärte jetzt, vereinfacht, dass der Betriebsrat in diesem Fall gar kein Initiativrecht hatte. Das gebe es immer nur dann, wenn etwas nicht schon durch ein Gesetz geregelt ist. Und das sei in diesem Fall so gewesen, und zwar durch Paragraf 3 des Arbeitsschutzgesetzes. Anders gesagt erklärte das Gericht, dass das EuGH-Urteil in Deutschland längst gängige Praxis sein müsste, da es hierfür schon ein Gesetz gebe.

Für den Juristen Philipp Neddermeyer vom Norddeutschen Unternehmensverband AGA schießt das Gericht damit über die Zielvorgabe hinaus: In Deutschland gebe es bereits eine spezielle Vorschrift, die die Zeiterfassung regele – den Paragraf 16 des Arbeitszeitgesetzes. Und eigentlich müsste dieser Paragraf entsprechend der Vorgaben des EuGH-Urteils angepasst werden, so Neddermeyer – nicht Paragraf 3 des Arbeitsschutzgesetzes. Die Vorgaben der Stechuhr-Entscheidung unmittelbar aus dem weiteren Arbeitsschutzgesetz herzuleiten, hält er im Gespräch mit Capital für sehr problematisch: „Das ist hart an der Grenze zu dem, was ein Gericht in ein Gesetz hineininterpretieren sollte.“

Wie ist der Stand der politischen Diskussion?

Die Entscheidung des BAG ist ein klarer Auftrag an die Politik. Diese muss nun die Vorgaben aus dem Stechuhr-Urteil zeitnah in ein Gesetz gießen, beziehungsweise die bestehenden Gesetze anpassen. Mit einem ersten Entwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird im ersten Quartal 2023 gerechnet. Die inhaltlichen Perspektiven auf das Gesetzesvorhaben sind grundverschieden. Ein Überblick:

Pascal Kobel, sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, fordert gegenüber Capital praxistaugliche Lösungen: „Arbeitszeiterfassung muss flexibel und unbürokratisch möglich sein, ob auf Papier oder digital. Die Erfassung der Arbeitszeiten muss zudem unbedingt an den Arbeitnehmer delegiert werden können.“ Kobel kritisiert, Arbeitsminister Hubertus Heil habe den Prozess „leider erst spät gestartet“.

Für eine etwas strengere Lösung plädieren die Grünen in Person von Frank Bsirske: „Wir wollen eine möglichst lückenlose Erfassung der Arbeitszeit“, so Bsirske zu Capital. „In problematischen Branchen, wie denen, die in Paragraf 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannt werden – zum Beispiel der Gastronomie oder dem Taxigewerbe –, ist es darüber hinaus wichtig, dass die Arbeitszeit fälschungssicher erfasst wird.“

Die engste Auslegung kommt aus dem Lager der Linken. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Susanne Ferschl erklärt auf Anfrage: „Die Hinhaltetaktik in Fragen des Arbeitnehmerschutzes hierzulande ist eine echte Unverschämtheit. Jahr für Jahr leisten Beschäftigte Unmengen an unbezahlten Überstunden. Sie werden also nicht nur systematisch um den Lohn betrogen, sie riskieren auch schlimmstenfalls ihre Gesundheit. Seit 2019 ist Deutschland aufgefordert, eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung auf den Weg zu bringen. Da kann es doch nicht angehen, dass es nach einem zweiten Urteil nochmal Monate dauert.“

Was fordern Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter?

Arbeitnehmervertreter zeigten sich hocherfreut von der Entscheidung des BAG. Hivzi Kalyci, Gewerkschaftssekretär der IG BAU in Berlin, sagt gegenüber der „Berliner Zeitung“: „Drei Jahre wurde die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung verhindert, jetzt gilt sie endlich. Bislang mussten Kollegen nachweisen, dass sie gearbeitet haben, um Geld zu bekommen. Jetzt haben wir eine Umkehr der Beweispflicht“. Für sie sind die Leitplanken im Prinzip klar gesetzt.

Arbeitgebervertreter wie Philipp Neddermeyer blicken gelassener auf die Entscheidung. Beim AGA hoffe man nun auf eine „intelligente Überarbeitung des eigentlich einschlägigen Arbeitszeitgesetzes, das die Vorgaben des EuGH umsetzt – gleichzeitig aber an anderer Stelle Öffnungen ermöglicht“. Was er meint: Aktuell dürfen Arbeitnehmende maximal zehn Stunden pro Tag arbeiten und müssen elf Stunden arbeitsfreie Ruhezeit einlegen. Wenn tatsächlich alle Arbeitsminuten dokumentiert werden müssten, ergeben sich ganz praktische Probleme: Wer beispielsweise kurz vor dem Schlafengehen noch in seine Mails schaut, könne morgens nicht an wichtigen Meetings teilnehmen. „Wir merken, dass viele Beschäftigte diese flexiblen Modelle und Vertrauensarbeitszeit wollen. Wenn wir das aber umsetzen sollen, dann brauchen wir flexible Lösungen im Arbeitszeitgesetz.“

Bei der konkreten Umsetzung hofft Neddermeyer, dass die Mitarbeitenden ihre Arbeitszeit selbst dokumentieren dürfen, bestenfalls sogar händisch. Das würde kleine Unternehmen davon entlasten, teure elektronische Systeme einzukaufen. Ganz grundsätzlich will er gar nicht so viel ändern: „In Deutschland sind Arbeitnehmende gut geschützt. Das mag innerhalb der EU unterschiedlich sein, was sich im EuGH-Urteil auch ausdrückt. Aber in Deutschland trifft es auf grundsätzlich gute und ausgewogene rechtliche Rahmenbedingungen – sowohl für Arbeitnehmende als auch für Arbeitgeber.“

Was müssen Arbeitgeber jetzt tun?

Aktuell kursieren dutzende Beiträge von Fachanwälten im Netz zur Frage, was Unternehmen zu tun oder zu lassen haben. Viele Geschäftsführer sind entsprechend verunsichert und fragen auch beim AGA an. Neddermeyer rät seinen Mitgliedern vorerst zur Besonnenheit  – aber auch zur aktiven Kommunikation: „Unternehmen sollten ihren Betriebsräten oder Mitarbeitenden frühzeitig signalisieren, dass sie das Thema auf dem Schirm haben.“

Gleichzeitig warnt er vor voreiligen Entscheidungen. Vielmehr empfiehlt er, die absehbare Anpassung im Arbeitszeitgesetz abzuwarten und dann zügig umzusetzen. „Sonst besteht die Gefahr, dass man über das Ziel hinausschießt und die ganze Mannschaft in ohnehin schon herausfordernden Zeiten irritiert“, so der Rechtsexperte.

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