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Arbeitszeiterfassung Wie SAP nach dem Stechuhr-Urteil an der Vertrauensarbeitszeit festhalten will

Cawa Younosi ist Personalleiter bei SAP in Deutschland
Cawa Younosi ist Personalleiter bei SAP in Deutschland
© SAP
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung stellt viele Unternehmen vor Probleme – erst recht, wenn bislang Vertrauensarbeitszeit praktiziert wurde. Wie der Dax-Konzern SAP damit umgeht, erklärt Personalchef Cawa Younosi

Schon im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter erfassen müssen. Als das Bundesarbeitsgericht im September dem Urteil folgte und bestätigte, dass diese Pflicht auch in Deutschland gelte, löste das eine kontroverse Debatte aus – manche sahen darin bereits das Ende von New Work und die Rückkehr zur Stechuhr.

Ihre Urteilsbegründung reichten die Erfurter Richter Anfang Dezember nach. Danach müssen Arbeitgeber Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit erfassen –einschließlich Überstunden und Pausenzeiten. Viele Details sind noch offen, die muss nun das Bundesarbeitsministerium klären. Dennoch gilt die höchstrichterliche Anordnung ab sofort. In vielen Unternehmen, die Capital dazu befragt hat, herrscht noch Unschlüssigkeit, wie nun mit dem Urteil umzugehen ist. Äußern mag sich kaum jemand. Eine Ausnahme machte Cawa Younosi, Personalchef für SAP in Deutschland.

Cawa Younosi ist Personalleiter und Mitglied der Geschäftsführung bei SAP in Deutschland. Zudem führt er als Global Head of People Experience alle Personalleiter des Technologiekonzerns in einem globalen Team. SAP beschäftigt mehr als 25.000 Mitarbeiter in Deutschland und 110.000 weltweit. Younosi ist zudem Mitglied im Präsidium des Bundesverbands der Personalmanager (BPM)

CAPITAL: Herr Younosi, Ihre Zusage zu diesem Interview kam abends um 21 Uhr. Haben Sie Ihre Arbeitszeit denn ordnungsgemäß erfasst?
Cawa Younosi: (lacht) Stimmt, so lange sollte ich nicht arbeiten. Als leitender Angestellter wird meine Arbeitszeit wohl auch künftig nicht erfasst und nicht kontrolliert. Aber hier zeigt sich trotzdem für alle Arbeitnehmer eine der offenen Fragen dieses Stechuhr-Urteils: Was ist Arbeitszeit? Wenn ich abends vor dem Schlafengehen noch meine Emails checke? Wenn mir unter der Dusche eine bahnbrechende Lösung für ein Problem in meinem aktuellen Jobprojekt einfällt? Muss ich dann rausspringen und umgehend meine Arbeitszeit erfassen? Was ist, wenn ich im Homeoffice arbeite, der Postbote klingelt und eine Druckerpatrone liefert? Gilt das als Arbeitszeit? Und wenn der nächste Bote klingelt, um meine Weihnachtsgeschenklieferungen zu bringen? Das lief bislang alles unter Vertrauensarbeitszeit. Aber durch die neue Rechtsprechung werden wir das alles noch mal diskutieren müssen.

Der Europäische Gerichtshof hat das Urteil zur Arbeitszeiterfassung 2019 gefällt, das Bundesarbeitsgericht hat es im September dieses Jahres bestätigt. Eine entsprechende Verordnung der Bundesregierung fehlt noch. Aber die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt schon jetzt. Hält sich die SAP daran?
Wir haben wie viele andere Unternehmen auf die Entscheidungsbegründung des Bundesarbeitsgerichts gewartet. Die liegt seit ein paar Tagen vor und gibt erste Anhaltspunkte für das noch ausstehende Gesetz. Danach müssen Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie Überstunden in irgendeiner Form erfasst werden. Dem werden wir natürlich nachkommen. Und als Technologieunternehmen werden wir dafür nicht Stift und Zettel nutzen, sondern ein elektronisches Programm. Die entsprechende Software haben wir ja in unserem SAP-Produktangebot. Wir werden uns auf den Einsatz vorbereiten und in den kommenden Wochen auch Gespräche mit unseren Betriebsräten darüber führen. Viele Fragen sind aber auch noch offen, die der Gesetzgeber jetzt klären muss.

Dann bewegen sich Arbeitgeber also momentan in einer juristischen Grauzone?
Zwischen normiertem Recht und Realität herrscht bei Arbeitszeiten ohnehin eine große Diskrepanz. So gibt es zum Beispiel schon seit längerem die Vorschrift zur Ruhezeit von elf Stunden zwischen Arbeitsende und Arbeitsbeginn. Aber außerhalb von Produktionsschichten gelingt das im Bereich der Wissensarbeit wohl nur wenigen Mitarbeitenden, diese vorgeschriebene Ruhezeit konsequent einzuhalten. Es ist generell schwierig, die klassischen Arbeitszeitregelungen so umzusetzen, dass sie der betrieblichen Realität gerecht werden, ohne die Gesundheit der Mitarbeitenden zu opfern. Wir hoffen deshalb, dass der Gesetzgeber bei der Arbeitszeiterfassungspflicht entsprechende Öffnungsklauseln zulässt, so dass jedes Unternehmen die Anforderungen so erfüllt, dass sie zu den individuellen Bedürfnissen passen.

Aber die Realität sieht doch bislang so aus, dass die Arbeitszeit vieler Mitarbeiter gerade im Wissensbereich nicht erfasst und die Einhaltung auch nicht überprüft wird. Da bleibt es den Mitarbeitern überlassen, ob sie sich daran halten oder ob sie permanent mehr arbeiten. War da die Vertrauensarbeitszeit nicht auch einfach sehr bequem für Arbeitgeber?
Wer verantwortungsvoll mit Mitarbeitenden umgeht, setzt Vertrauensarbeitszeit intelligent um und achtet dabei auf den Gesundheitsschutz, den die obersten Richter nun explizit als Grund für die Arbeitszeiterfassungspflicht anführen. Wir haben bei SAP seit Jahren eine Betriebsvereinbarung zur Vertrauensarbeitszeit. Bei unseren Mitarbeitenden fallen auch Überstunden an und dafür nehmen sie in einem fest vereinbarten Workflow Freizeitausgleich. Den können die Leute bei uns sogar im Voraus nehmen, wenn sie wissen, dass ein größeres Projekt mit mehr Arbeitsaufwand ansteht. Bislang haben wir den Mitarbeitenden vertraut, dass sie das im richtigen Maß ausgleichen. Nach dem neuen Arbeitszeiterfassungsgesetz müssten wir die Überstunden und den Freizeitausgleich wohl nach Stunden und Minuten abrechnen.

Aber ohne Arbeitszeiterfassung wissen Sie doch auch nicht, wie viele Überstunden bei den SAP-Mitarbeitern tatsächlich angefallen sind und ob die auch alle ihren Freizeitausgleich genommen haben.
Doch das wissen wir, weil die Mitarbeitenden ihren Freizeitausgleich laut Betriebsratsvereinbarung digital anmelden müssen und genehmigt bekommen. Die Kehrseite von Flexibilität ist Selbstausbeutung. Aber wir helfen den Mitarbeitenden verantwortungsvoll mit ihrer Gesundheit und ihren Bedürfnissen umzugehen. Wir haben 2018 ein Achtsamkeitsprogramm gestartet, dass heute wohl das umfangreichste in der deutschen Wirtschaft ist. Von unseren 25.000 Mitarbeitenden in Deutschland nehmen seither im Schnitt 10.000 bis 15.000 an unseren Trainingsangeboten zu Mental Health teil.

Wissen Sie denn, ob das zu einem besseren Gesundheitsschutz, den ja die obersten Richter einfordern, verhilft?
Unsere Mental-Health-Angebote sind kein esoterisches Zeug, sondern kommen den Mitarbeitenden offenbar zugute. Wir bieten das seit 2018 an und sehen seither – selbst durch die schwierige Corona-Pandemie – einen positiven Einfluss auf die Gesundheit unserer Mitarbeitenden.

Woher wissen Sie das?
Über die Krankenkassen bekommen wir regelmäßig anonymisierte Statistiken, die wir intern veröffentlichen. Somit haben wir einen Überblick über die Entwicklung von Krankschreibungen. Bei SAP liegt die Krankheitsrate seit Jahren um 50 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. Außerdem führen wir zweimal im Jahr Mitarbeiterbefragungen durch und fragen dabei auch, ob die Mitarbeitenden eine gesunde Work-Life-Balance haben. Die Werte sind weltweit auch in der Corona-Pandemie stabil geblieben.

Unter dem Strich bleibt die Frage: Kann man Vertrauensarbeitszeit trotz Arbeitszeiterfassung gewähren oder schließt sich das aus?
Das kann schon zusammengehen. Am Ende ist auch das eine Frage der gepflegten Unternehmenskultur, in der nicht über jeden Spaziergang Buch geführt werden muss. Wir werden Mitarbeitern und Führungskräften in Schulungen vermittelt, dass wir eine Arbeitszeiterfassungspflicht haben, um auf die Gesundheit unserer Mitarbeiter zu achten. Aber dafür werden wir nicht unsere Vertrauenskultur opfern. Denn die hängt nicht von der Stechuhr ab, sondern von vielen Faktoren in unserer modernen Arbeitswelt.

Und welchen Aufwand wird SAP für die Arbeitszeiterfassung künftig betreiben müssen?
Eine rigorose Arbeitszeiterfassung wird natürlich zu mehr Aufwand, mehr Kosten, mehr Bürokratie führen. Neben unserem elektronischen Zeiterfassungssystem werden wir ja auch noch zusätzliches Personal einsetzen müssen für die Kontrolle und Verwaltung der Daten.

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