

Mira Mühlenhofist studierte Sozialpsychologin. Sie hat als TV-Moderatorin und Hörfunk-Journalistin gearbeitet. Mühlenhof ist Gründerin und Leiterin der „Key to see-Akademie“ in Berlin und Hannover, coacht und berät Führungskräfte und Privatpersonen. Mehr unter mira-muehlenhof.de und keytosee.de
Die größte Stolperfalle für Menschen im Top-Management lauert in einem mangelnden Verständnis für den sogenannten „blinden Fleck“. Dieser bezeichnet Anteile beziehungsweise Aspekte der Persönlichkeit, die für Außenstehende offensichtlich, von dem Betroffenen selbst jedoch nicht wahrgenommen werden. Anders formuliert: Es handelt sich hierbei um die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung. Das Fatale dabei: Genau diese Persönlichkeitsanteile führen zu unbewussten Handlungen, die auf Dauer die Karriere ruinieren. Ist ein Top-Manager nicht bereit, über sich selbst tiefgehend zu reflektieren, hat das früher oder später Konsequenzen: Im schlimmsten Fall führt das falsche Selbstbild zu unternehmerischem Größenwahn, gnadenlosem Egoismus oder arroganter Selbstverliebtheit, zu einem Absturz von ganz oben nach ganz unten. Thomas Middelhoff und Uli Hoeneß sind Beispiele für Manager, die tief gefallen sind.
Selbstbild versus Fremdbild
Siemens-Chef Joe Kaeser steht noch ganz oben. Aber an seinem Beispiel lässt sich zeigen, welche Fallen in einem falschen Selbstbild lauern. Der Siemens-Chef wird von der intrinsischen Motivation Kampf geleitet. Das heißt, er verspürt den inneren Drang zu kämpfen und sich durchsetzen zu müssen. Menschen mit dieser Persönlichkeitsstruktur überzeugen durch einen messerscharfen Verstand, gehen strukturiert und analytisch vor. Sie sind strategische Kämpfer. Um eine Metapher zu bemühen: Das Verhalten von Joe Kaeser gleicht dem eines schwarzen Panthers. Er liegt im Schutz der Dunkelheit auf dem Baum und wartet ruhig auf seine Beute. Wer Joe Kaeser einmal persönlich begegnet ist der weiß, dass sich der Top-Manager sogar so geschmeidig bewegt wie eine Raubkatze. Joe Kaeser wurde in seinen Zeiten als Siemens-Finanzchef nicht nur von den Gewerkschaften gefürchtet: Er gilt auch heute noch als unerbittlicher Verhandlungsführer. Wie ein Boxer. Kaeser nimmt sich die Zeit, vor dem Kampf seine Boxhandschuhe anzuziehen, weil er sich und seinen Gegner nicht verletzen will. Er ruht aber auch nicht eher, bis der andere am Boden liegt. Kaeser kämpft fair. Und nach Regeln.
Seine Werte teilte er zuletzt nach dem tragischen Tod von Heinz-Joachim Neubürger der Öffentlichkeit mit. Sein Vorgänger auf dem Posten des Finanzchefs hatte kurz nach einem Vergleich, den der Konzern in Aufarbeitung des Compliance-Skandals mit ihm geschlossen hatte, den Freitod gewählt. Kaeser betonte, dass Werte wie Fairness, Offenheit und Anstand wichtige Güter im Leben seien, die häufig vergessen würden, dann aber doch eine große Bedeutung bekämen. Wahre Worte aus dem Mund eines Kämpfers. Was hat Joe Kaeser mit Mephisto zu tun? Das Prinzip Kampf als intrinsische Motivation gleicht dem permanenten Spiel mit dem Feuer, ohne den das Leben langweilig wäre. Wir kennen dieses Motiv von Mephisto, dem Gegenspieler von Goethes Faust: Joe Kaeser hat einen nahezu diabolischen Spaß daran, seinen unerbittlichen Kurs durchzusetzen. Dazu braucht er Sparringspartner wie ein Boxer seinen Gegner. Wer nicht gegen ihn kämpft, hat schon verloren. Andererseits: Was macht ein Boxer, wenn man den Kampf gegen ihn gar nicht erst aufnimmt?
Kaeser verbietet sich jede Schwäche
Seine Fallen: Menschen, die von der intrinsischen Motivation Kampf angetrieben werden, kämpfen auch dann, wenn es gar nicht (mehr) nötig ist. Früher oder später wird offensichtlich, dass Kampf nicht immer die beste Wahl ist. Und dass Kaeser nicht nur um Freiheit und Autonomie, sondern in Wahrheit gegen sich selbst kämpft. Der Top-Manager verbietet sich jegliche Schwächen, die ja auch menschlich sind. Er vertraut nur sich selbst. Genau diese Eigenschaft könnte ihn zu Fall bringen: Manager, die ihren Mitarbeitern nicht vertrauen, verlieren zuerst ihren „Inner Circle“ – und dann den Rest der Mannschaft. Der Weg aus dem Dilemma: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung und somit der Schlüssel zu nachhaltigem Erfolg. Wer sich dauerhaft im Top-Management halten will, kommt um die Aufdeckung seines blinden Flecks und die Reflektion seiner unbewussten Verhaltensmuster nicht herum. Der kraftvolle Prozess der Selbstreflexion ist kein Spaziergang, dient jedoch der Stärkung der eigenen Stärken und Minimierung der Schwächen. Die Synchronisierung des eigenen Selbstbilds mit dem Fremdbild der anderen sollte kein Manager dem nächsten 360-Grad-Feedback überlassen sondern selbst in die Hand nehmen. Im exemplarischen Beispiel von Joe Kaeser hieße das: Den eigenen Kampf anzuerkennen und nach der Ursache zu forschen. Herauszufinden, warum er sich oft so fühlt wie ein Panther im Käfig. Worum er wirklich kämpft. Und daraus das Vertrauen zu entwickeln, dass sich manche Dinge auch von selbst zum Guten entwickeln – ohne dass man um sie kämpfen muss.