Es wird wohl noch ein bisschen dauern mit dem großen Lockermachen in Deutschland. Stattdessen gibt es jede Menge wenig erfreuliche, öffentliche Debatten um die Corona-Maßnahmen, denen ich nicht entkomme – und Sie wahrscheinlich auch nicht.
Ich kann nicht wissen, wie es Ihnen damit geht, aber mir fällt in diesen Diskursen ein interessantes und meines Erachtens gefährliches Phänomen auf.
Sind Sie etwa Populist?
Egal, welche dieser Debatten Sie verfolgen, auf eines können Sie wetten: Nach kürzester Zeit leitet ein Teilnehmer seinen Redebeitrag ein mit so etwas wie: „Wir müssen auf die Wissenschaftler hören und die sagen …“. Was dann folgt, ist eine spezifische Art von Statement. Die besagt: Wir können die Diskussion beenden, denn die Sache ist klar. Und die anderen Teilnehmer verstehen diese Ankündigung auch so. Denn in jüngster Zeit hat sich in große Teile der öffentlichen Kommunikation ein Narrativ eingenistet.
Dieses Narrativ lautet: Jede kluge und vernünftige Führungskraft in Wirtschaft und Politik hört auf die Wissenschaft. Wer das nicht tut, der muss ein Populist sein. Und so wird Wissenschaft zu einer Art Generalargument.
Diese Erscheinung ist nicht neu, doch die Pandemie spült sie mit voller Wucht an die Oberfläche. Zu Lasten abgewogener Entscheidungen voller Maß und Mitte.
Die alternativlose Entscheidung
In der Regel sind es nicht einmal Wissenschaftler, die so argumentieren. Es sind andere Debattenteilnehmer, die der Runde wissenschaftliche Erkenntnisse aus Studien entgegen schleudern. Sie tun so, als wäre damit sonnenklar, welche Entscheidung die richtige ist. Welche Entscheidung getroffen werden muss , weil alles andere doch der Faktenlage widerspricht. Dass die Entscheidung also alternativlos ist.
Doch das ist sie nicht. Kann sie gar nicht sein.
Denn der Generalverweis auf die Wissenschaft wirft aus meiner Sicht drei Fragen auf.
Frage 1: Welche Wissenschaft überhaupt?
Die erste Frage: Wenn wir auf die Wissenschaft hören sollen, dann – bitteschön – auf welche? Jetzt gerade in der Covid-Krise: Sollen wir auf die Virologen hören, oder auf die Epidemiologen? Was ist mit anderen medizinischen Fachgebieten? Oder sollten wir besser auf Ökonomen hören? Auf Juristen? Medienforscher? Soziologen? Ingenieure?
Jede Wissenschaft untersucht die Welt mit ihrem eigenen Ansatz. Und die Disziplinen untereinander kommen so zu durchaus gegenläufigen Ergebnissen. So behauptet die ehemalige Gattin von Karl Lauterbach, ihr Ex-Mann habe keine Ahnung, denn er sei ja Epidemiologe. Sie als Virologin hielte das, was er sagt, größtenteils für Quatsch. Vielleicht lässt sich hier auch nur die Sozialstudie einer gescheiterten Ehe nachvollziehen, doch die Gegensätze sind da. Wenn zum Beispiel erste Studien von Sozialmedizinern besagen, dass die Zahl der Depressionserkrankungen und sogar der Suizide in der Zeit der Lockdowns dramatisch ansteigt – widerspricht das nicht den intensivmedizinischen Studien, die besagen, dass der Lockdown Leben rettet?
Diese Gegenläufigkeit von wissenschaftlichen Ergebnissen kommt ja bei weitem nicht nur beim Thema Corona-Beschränkungen vor. Sie können sie zum Beispiel auch in der Klimadebatte beobachten: Nicht nur Klimahysteriker, sondern auch ein beträchtlicher Teil seriöser Klimaforschung sagt den Weltuntergang voraus, die Wirtschaftswissenschaften kommen da aber zum Beispiel zu teils gegenläufigen Ergebnissen. Wie geht das zusammen? Ich vermute: gar nicht – es sei denn, Sie markieren die eine Wissenschaft als gut und anständig, die andere als schlecht und verwerflich. Mit solchen Erklärungen schliddern Sie ganz schnell in das moralische Gut-Böse-Spiel – was dann mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat.
Schon die erste Frage muss also offenbleiben. Die zweite Frage, die das Generalargument „Wissenschaft“ aufwirft, ist nicht weniger brisant.
Frage 2: Welche Studien überhaupt?
In meinen Vorträgen zitiere ich gerne eine fiktive Studie, die besagt, dass neun von zehn Kinder Mobbing gar nicht so schlimm finden. Das ist Polemik, zeigt aber schon die Richtung, was für einen Unsinn Sie auch mit Studien herausfinden können. Und bekanntermaßen finden Sie für jede Meinung eine Studie, die diese belegt.
Die Frage ist also: Auf welche Seite hören Sie seriöserweise, wenn vielleicht sogar innerhalb einer Disziplin gegenläufigen Studienergebnisse publiziert sind: Auf „die Mehrheit der Wissenschaftler“? Oder auf die „renommierteren“? Weil die besser sind?
Wenn Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, heißt das ja nicht, dass ein Teil der Studien oder Studien an sich schlecht sind. Oder keine Erkenntnisse bringen. Im Gegenteil: Sie erfüllen auf großartige Weise ihre Aufgabe.
Denn die gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft ist herauszufinden, was „wahr“ und was „falsch“ ist – bezogen auf ihr ureigenes Fachgebiet, meist unter quasi Laborbedingungen, unter Ausblendung aller anderen Einflussfaktoren („ceteris paribus“).
Vereinfacht könnte ich sagen: Wissenschaft schafft Fakten.
Alternative Äpfel
Es sind Fakten, weil sie wahr sind. Deshalb ist der Begriff „alternative Fakten“ auch so absurd: Entweder etwas ist wahr oder eben nicht. Die „Alternativen“ ergeben sich erst aus der Deutung dieser Fakten.
Besagt eine Studie, dass ein Apfel nach oben steigt, und die andere das Gegenteil, ist – die Vermutung ausgeklammert, dass bei mindestens einer Studie gehörig geschlampt wurde – der einzig zulässige Schluss: Dieses Thema ist noch nicht abschließend beurteilbar, es scheint eine Präzisierung erforderlich. In welchem Kontext zeigt der Apfel mal das eine, mal das andere Verhalten?
Solange Sie diese beiden Studienergebnisse nicht in Übereinstimmung bringen, können Sie weder mit dem Ergebnis der einen noch der anderen Studie etwas anfangen. Sie bringen Ihnen maximal die Erkenntnis, dass ganz schön viel möglich ist.
In Übereinstimmung bringen könnte solche Gegensätze beispielsweise eine saubere Theorie. Eine solche zeichnet sich dadurch aus, dass durch sie alle Studienergebnisse gleichermaßen erklärbar und konsistent zueinander sind.
Ich bin bekennender Theorie-Fan, denn im Gegensatz zu Studienergebnissen können Sie auf der Basis einer guten Theorie sehr wohl Entscheidungen treffen – die erhebt sich nämlich über alle Ideologien.
Viele Wissenschaftler bemühen sich um genau solche Theorien. Politische oder unternehmerische Entscheidungen kann und will ich ihnen – so groß meine Hochachtung vor diesen Menschen ist – dennoch nicht überlassen. Warum? Das hat mit der dritten und letzten Frage zu tun, die ich denjenigen stellen möchte, die Wissenschaft als Generalargument ins Feld führen: Was ist überhaupt eine Entscheidung?
Frage 3: Welche Entscheidung überhaupt?
Würden Sie vor einer Entscheidung stehen, in der alle Fakten eineindeutig sind und nur eine Option überhaupt möglich erscheinen lassen, dann wäre keine Entscheidung notwendig: Eine alternativlose Entscheidung ist keine .
Eine Entscheidung ist per definitionem eine Wahl zwischen zwei oder mehr Optionen, bei der Ihnen entscheidendes Wissen fehlt. Wenn Sie bereits wüssten, welches die beste Wahl ist, müssten Sie sich ja nicht mehr entscheiden: Alles andere, als das objektiv Beste zu wählen, wäre Unsinn.
Stünden im echten Leben nur solche Nicht-Entscheidungen an, also wäre die wissenschaftliche Faktenlage immer eindeutig und die beste Option daraus stets ableitbar, bräuchten wir keine Politiker mehr, wir bräuchten keine Manager mehr. Die zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie unter einem hohen Maß von äußerer Unsicherheit subjektiv eine Wahl treffen – eben entscheiden.
Wenn also jemand in einer Debatte so tut, als würde die Wissenschaft Beweise für die einzig richtige Option vorlegen, versucht er ganz offensichtlich, seiner individuellen Deutung der Fakten einen objektiven Anstrich zu geben. Er will sich mit Hilfe dieses Kronzeugen über die Meinungen aller anderen erheben.
So muss er auch nicht mehr selbst für seine Meinung geradestehen: Das übernimmt „die Wissenschaft“. Er ist aus der Schusslinie – und aus der Verantwortung. Darüber hinaus kann diesem Kronzeugen ja keiner widersprechen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, er „missachte die Fakten“.
Was dieser Jemand sich auf diese Weise verschafft, ist zwar ein Debattenvorteil. Die Entscheidung, die am Ende der Debatte fällt, wird davon allerdings keinen Deut klüger. Deshalb halte ich das Generalargument „Wissenschaft“ für ein manchmal nur rein rhetorisches, oft genug aber auch für ein in hohem Maße politisches Mittel. Also ein Mittel, Macht zu erlangen.
Deshalb werde ich so hellhörig, wenn in gesellschaftlichen Debatten oder in Meetings in Unternehmen ein Teilnehmer mit „der Wissenschaft“ argumentiert: Geht es hier um die Sache? Oder geht es hier um Macht?
Rein in die Verantwortung
Wenn das nächste Mal einer Ihrer Kollegen, Mitarbeiter oder Ihr Chef mit einer Studie um die Ecke kommt, um eine angeblich alternativlose Entscheidungslage zu dokumentieren, könnten Sie ihm genau diese drei Fragen stellen. Vielleicht gelingt es Ihnen damit, die Diskussion wieder auf vernünftige Füße zu stellen. Denn – um es nochmal klar zu sagen –: Wissenschaftler und ihre Erkenntnisse können Ihnen im besten Falle sagen, für was Sie sich nicht entscheiden sollten. Sie können Ihnen aber nie sagen, welche Entscheidung die richtige ist.
Und wenn Sie sich selbst dabei ertappen, dass Sie eine Studie vorschieben, um Ihre Meinung und Ihre Entscheidung zu rechtfertigen: Überlegen Sie, ob Sie die Verantwortung nicht lieber doch zu sich zurückholen. Denn der Entscheider sind und bleiben Sie.
Lars Vollmerist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.